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ART WORKERS COMMONS: INTROSPECTION

Start where you are. Gedanken zu einer "Union des Refusés".

  • Dec 29 2020
  • Oliver Koerner von Gustorf
    ist Kunstkritiker, Journalist, Gründer und ehemaliger Betreiber der Galerie September in Berlin.
    Omri Livne, Scent and Memory, 9.11.2020

 

Am liebsten würde ich mir angesichts der Scheiße, die in der Welt passiert, eine Duftkerze anmachen. Ich würde 300 Folgen Black Mirror auf Netflix gucken, mir selbst Amazon-Geschenke schicken, wie ein Hamster eingerollt in Watte schlafen. Draußen an meinem Käfig würde eine Videobotschaft laufen, dass ich ein progressiver Mensch bin, auf der richtigen Seite stehe.

Aber natürlich nur, damit ich meine Ruhe habe. Aber jetzt müssen wir ring, ring, aufwachen und mit Arts of the Working Class einen Art Workers Commons gründen. Dieser Commons wäre ein Zusammenschluss von Kunstarbeiter*innen, in dem jeder alles mitverwaltet. Ein Commons ist dafür da, Ressourcen zu schützen und zu pflegen – in diesem Fall wären das Kunst und Kultur und die Menschen, die für sie arbeiten. Aber gibt es dafür nicht sowieso Organisationen, wie den Berufsverband Bildender Künstler*innen Berlin, die sich für die Interessen der Art-Worker*innen und Kulturschaffenden einsetzen? Hilft der Staat nicht?

Doch. Natürlich gibt es Verbände, die engagiert helfen, die Bundesregierung hat milliardenschwere Rettungsprogramme aufgelegt. Warum also Kunst-Commons? Weil es um viel mehr geht. Erst einmal gehören zu den Art-Worker*innen nicht nur Künstler*innen, Kurator*innen, Autor*innen. Sondern auch Messebauer*innen, Kellner*innen, Caterer*innen, Praktikant*innen, IT-Menschen oder auch Leute, die diese Zeitung auf der Straße und in der U-Bahn verkaufen. Und viele mehr. All diese Menschen sind vom Kulturbetrieb abhängig, aber haben als Kultur-Worker*innen keine Vertretung. Der Ansatz eines Commons könnte aber weit darüber hinausgehen. 

Gerade jetzt, wo alles so irre und isoliert ist, sich so viele Leute einsam, verrückt oder wertlos fühlen, könnte es die Kunst sein, die uns rettet. Sie könnte den „Common Ground“ bieten, um dringend nötige Gemeinschaft zu bilden. Mit der Kunst könnten wir Wärme finden, etwas anderes probieren als das, was gerade läuft. Ein Commons wäre ein „Safe Space“, aber auch ein abenteuerlicher Raum, ein Experiment ohne definierten Nutzen, ohne Ziel. Man kann sich eine Art utopisches Kunst-Notfallzentrum denken. Hier könnte sich ein alternativer Interessenverband organisieren, gemeinsam produzieren, lehren, lernen, Kunst produzieren, was auch immer.

Ein Commons wäre auch für die Nachbarschaft da. Leute könnten ihre Kinder vorbeibringen, Kurse machen oder für etwas geben, das sie gut können. Ein Common könnte Sachen verkaufen, Kunstwerke oder diese Zeitung etwa - aber es selbst kann nicht verkauft werden, es gehört nur allen zusammen, keinem Einzelnen. Wie ein Anglerverein. Das wichtigste aber ist, dass hier Leute zusammenkommen, die sonst nicht miteinander reden. Und dass sie versuchen, eine Sprache zu finden, die einfühlsam ist und von unterschiedlichen Menschen verstanden wird, ohne alles zu vereinfachen. 

Sprache: Fangen wir mal mit dem Namensvorschlag von Arts of the Working Class an. Sie wollen eine Union des Refusés gründen. Das bedeutet Vereinigung der Zurückgewiesenen. Das könnten die prekären Art-Worker*innen sein, die vom Staat, den Institutionen, der Gesellschaft zurückgewiesen werden, kein Geld, keine Anerkennung bekommen und sich jetzt organisieren. Doch viele der Autor*innen dieser Zeitung, und auch die Macher*innen, sind offiziell gar nicht zurückgewiesen. Sie sind Akademiker*innen, Künstler*innen, Studis, Lehrende, Kurator*innen – vernetzt mit den Institutionen, auch mit dem Kunstbetrieb. Einige kommen aus Arbeiter*innenfamilien, doch niemand ist hier ist im marxistischen Sinne Working Class. Fakt ist aber auch, dass man in einer Institution, einem Projektraum, mitten im schicken Kunstbetrieb sitzen und trotzdem Refusé, abgelehnt und prekär sein kann, ohne festen Vertrag oder angemessenes Honorar arbeiten, den Job von Vorgesetzten erledigen, jahrelang jobben, die eigenen Materialien und das Studio zahlen, 1000 Ausstellungen machen, die Kultur bereichern kann, ohne einen Penny zu verdienen. Wir alle haben viele, oft auch widersprüchliche Identitäten, die einander widersprechen: Wohnungslose*r und Künstler*in, Galerist*in und Jobber, Konservative*r Unternehmer*in und Kapitalismuskritiker*in. Wir brauchen also komplexere Begriffe von Arbeit und Identität in der Kunstwelt, die auf diese Problematik eingehen, um authentischer über Hierarchien und Privilegien zu sprechen.

Nach dem Erscheinen von Judith Butlers Buch Gender Trouble (1990) und der Aids-Krise bildete sich in den anbrechenden 2000ern die sogenannten "Identitätspolitik, die heute in ihrer Vanilla-Version vielen auf den Wecker geht, weil sie Debatten um systemischen Rassismus, Klasse, Ungleichheit, Kapitalismus wie Make-Up zupappt". Deswegen heißt diese Zeitung Arts of the Working Class, weil sie den liberalen Kunstbetrieb aus einer marxistischen Perspektive anschauen will. Identity is a Pain in the Arse war auch der Aufmacher der letzten Ausgabe. Dabei ist eine heutige Linke ohne die Identitätsrevolten von einst gar nicht denkbar.

Das Nachdenken über sexuelle, politische, kulturelle Identität schloss neue Visionen von kollektivem Zusammenleben ein. Identitätspolitik hieß mal Protest gegen gesellschaftliche Formen von Diskriminierung und Gewalt und den Sturm auf kulturelle Institutionen. Der Zusammenschluss von feministischer, queerer, antirassistischer Bewegung wurde damals auf der Straße und aus der Not geboren - einfach, weil Leute wie die Fliegen starben, diskriminiert und verstoßen wurden. Heute ist wieder Pandemie, wieder Not.  

Doch über Identitäten von sogenannten PoC (Person/People of Color) und BPoC (Black and People of Color), Frauen, Feministinnen, Transgender-Menschen wird nicht mehr aus einer Position der Ohnmacht, sondern der Macht gesprochen. Sie werden von einer akademischen Klasse verhandelt, die zum Teil gerade wegen ihrer Revolte von einst vom Establishment mit Posten belohnt wurde. Ihre robotisch angelernte, selbstgerechte, mikro-aggressive Sprache, die wie eine Waffe zur eigenen Machterhaltung eingesetzt wird, findet man in der Politik, den Akademien und Corporations. 

Oft ist die kritische Sprache, mit der mehr Fokussierung auf die Klasse, das kapitalistische System statt auf die Identität eingefordert wird, leider ähnlich exklusiv. Dass es auch anders geht, beweist die authentische, auch spirituell inspirierte Sprache der linken Grassroot-Bewegungen und von Black Lives Matter: Leute wie Alexandria Ocasio-Cortez, Cornel West, Nina Turner, Shaun King. Sie alle könnten sich gar nicht leisten, ihre Communities nicht zu berühren und abzuholen. Deswegen muss eines der Hauptziele der „union des refusés“ sein, eine authentische Sprache zu entwickeln, die auf Erfahrungen von Community beruht. Dabei ist entscheidend, sich kritisch mit dem zunehmend binären Denken auseinanderzusetzen, das in der digitalen und populistischen Kultur alle komplexeren, mitfühlenderen Ansätze verdrängt.

Die Debatten über Transgender-Rechte werden nicht so erbittert geführt, weil es nur um Pronomen, Fortpflanzung, Toiletten oder Frauenhäuser ginge. Es geht um eine grundsätzlich binäre Vorstellung, nicht nur von Identität, sondern der gesamten Welt. Auf der einen Seite steht „Natur“ (natürliche Fortpflanzung, göttliche Ordnung, authentische Geschlechter, biologische Familie), auf der anderen Seite steht „Technologie“ (Cyborgs, künstliche Geburten, nicht-biologische Familien, operierte, performte Geschlechterrollen). Dieses binäre Denken setzt sich in allen Kategorien fort: gut-böse, nützlich-dekadent, rechts-links, sicher-gefährlich, Hamster-Aktivist.

Für binär denkende Menschen, also uns alle, scheint der eigene, gemütliche Identitätsbegriff gefährdet: Wenn Gender eine Illusion ist, dann sind es auch Klasse, Rasse, Ideologien, sämtliche bestehenden Gesellschaftssysteme, die gerade von einer Störung nach der anderen heimgesucht werden. Das Festhalten an binärem Denken ist der letzte angsterfüllte Versuch, die Kontrolle wiederherzustellen. Kunst-Commons sollten einen Raum bieten, in dem diese Kontrolle aufgegeben werden kann, in dem unerwartete Begegnungen und Kurzschlüsse möglich sind – oder Glitches. Ein Glitch ist, wenn auf Skype oder WhatsApp das Bild einfriert, das Licht flackert, Pixelstreifen in Videospielen entstehen. Der Glitch, der Fehler im System, stellt das vermeintlich Normale, den Anspruch auf eine einzige, verbindliche Realität, radikal infrage. Und er zeigt uns die Schwächen des Systems und  einen Weg in die Freiheit. In ihrem Manifest Glitch Feminism beschreibt Legacy Russell Trans- und nicht-binäre Identitäten als Glitch.

„Ein Körper, der sich der Anwendung von Pronomen widersetzt oder innerhalb der binären Zuordnung nicht zu entziffern ist, ist ein Körper, der sich weigert, das erwartete Ergebnis zu performen. Dieses Nicht-Performen ist ein Glitch. Der Glitch ist eine Weigerung.“ Das kann man auch auf den politischen Kontext übertragen. 


Eine Union des Refusés könnte wie solch ein Körper funktionieren. Die Voraussetzung dafür ist die glitschige Erfahrung von Identität und Klasse, die wir nur mit Anderen machen können, die nicht sind wie wir. In der „union des refusés“ könnten wir lernen mit der Wirklichkeit umzugehen, indem wir Differenzen und Störungen als Potential sehen, beieinanderbleiben, nicht mehr alles Unerwünschte wegdrücken oder versuchen einander zu reparieren, damit es gut aussieht. Wir sollten so wunderbar kaputt und unvollkommen anfangen, wie wir sind. Die Not ist groß genug.

 

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This text is part of the series of contributions presenting L'Union des Refusés; a foundational prototype, a trust for aesthetic, social and economic values, an interventionist group for a joyful transformation of exploitative and precarious working conditions in the arts, a community-driven response to our shared vulnerability.

Oliver Koerner von Gustork was part of the workshops on Art Workers Commons at the Akademie der Künste der Welt, Cologne. Together we traced the desire for a trade union for art workers back to earlier ideas about collectivity and a public dimension in the arts, in line with a Marxist conception of society. When the salons des refusés in France and the art associations in Germany emerged in the 19th century, they paved the way for the interest groups of in-ternational modernity in the 20th century.

Arts of the Working Class draws on these experiences of community to set up a trade union for the provision of mutual help and support, developed in collaboration with international artists and thinkers, experts and amateurs. Art workers all over the world are invited to share their privileges and concerns within a not-for-profit organization for emotional, political and financial exchange, which aims to leave capitalist pressures and patterns behind.

 



  • IMAGE CREDITS
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    Andrea Büttner, Shepherds and Kings, 2017, slide show with 160 analogue 35 mm slides
    - Details from: Annunciation and Childhood of Christ, fol. 2, Les vies des femmes celebres, c. 1505, ink and tempera on vellum, 34 x 22 cm, Jean Pichore. Photo: Musée Dobrée, Nantes, France / Bridgeman Images

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