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GIORGIA MELONI IST KEIN MUSSOLINI. DOCH SIE KÖNNTE EIN TRUMP SEIN

Nichts ist nostalgisch am rechtsextremen Raum, den die Anführerin des Landes in Europa zu gestalten versucht.

  • Report
  • Sep 28 2022
  • Lorenzo Marsili
    is a philosopher, activist and founder of European Alternatives and Fondazione Studio Rizoma. He is the author of Planetary Politics: a Manifesto.

Italien, schrieb der linksradikale situationistische Philosoph Guy Debord im Jahr 1968, "fasst die sozialen Widersprüche der ganzen Welt zusammen". Daher sei das Land "ein Laboratorium für die internationale Konterrevolution".

Politische Analyst*innen auf der ganzen Welt sind nun damit beschäftigt, die Aussagen von Giorgia Meloni zu analysieren, um festzustellen, ob sie eine Faschistin, eine Neofaschistin oder eine Postfaschistin ist. Warum, so fragen sie, sind die Italiener*innen anscheinend bereit, eine Rückkehr zur Politik der dunkelsten Stunde ihres Landes in Betracht zu ziehen?

Aber hat Italien wirklich mit der Wiederauferstehung seiner faschistischen Vergangenheit zu tun? Und, noch wichtiger: Ist das Ergebnis der italienischen Wahlen ein Laborexperiment, dem der Rest der Welt möglicherweise folgen wird? Die Antworten lauten dementsprechend: Nein, und deshalb: Ja.

Diejenigen, die die Partei Fratelli d‘Italia als faschistisch bezeichnen, treffen den Kern der Sache nicht. Melonis Partei ist nicht so sehr der Erbe von Benito Mussolinis faschistischer Bewegung als vielmehr die erste europäische Nachahmerin der Republikanischen Partei in den USA, die durch ihre Zusammenarbeit mit Trump neu gestaltet wurde.

Meloni ist eine kluge politische Führungspersönlichkeit, die in der Lage ist, ein langfristiges Spiel zu spielen. Im Jahr 2012 verließ sie die relative Sicherheit von Berlusconis Dunstkreis, um ihre eigene kleine Partei zu gründen. Sie ließ sich Zeit und baute im Laufe der Jahre mühsam ihre Anhängerschaft auf. Im Jahr 2021 lehnte sie einen schnellen Weg an die Macht ab und weigerte sich, der Regierung der nationalen Einheit von Mario Draghi beizutreten.

Jetzt hat sie diese Macht errungen, als erste Frau in einer schmerzhaft patriarchalischen Gesellschaft. Es ist unwahrscheinlich, dass sie eine solche Errungenschaft in einem trashigen Remake faschistischer Mimikry vergeuden wird, das hundert Jahre zu spät kommt. Ihr Ziel ist es, den Kern einer neuen italienischen und europäischen Politik wachsen zu lassen.

Dieser Wunsch kam im Vorfeld der Wahlen deutlich zum Ausdruck. Meloni tat alles in ihrer Macht Stehende, um der US-Regierung mit einer atlantischen, antirussischen und antichinesischen Haltung volle Kontinuität zuzusichern. Gleichzeitig wollte sie den Finanzmärkten – und ja, auch der EU – versichern, dass ihre Regierung die Staatsverschuldung im Zaum halten würde. In beiderlei Hinsicht frustrierte sie ihre nachgeordneten Verbündeten Silvio Berlusconi und Matteo Salvini, die mit Empathie gegenüber Russland und mit unbedachten Ausgaben kokettierten.

Wenn es ihr gelänge, Washington und Brüssel in der Außen- und Wirtschaftspolitik zu beruhigen, so Melonis Kalkül, könnte sie in relativer Ruhe ihre Macht im eigenen Land ausbauen. Niemand würde riskieren, die italienische Regierung während einer Sicherheits-, Energie- und Lebenskostenkrise zu ächten, nur um Migrant*innen zu verteidigen oder die reproduktiven Rechte von Frauen zu schützen.

So opportunistisch dieser Ansatz auch sein mag, er ermöglicht es Meloni, einen Platz für eine neue Art von rechtsextremen Regimes in Europa zu schaffen. Außenpolitisch halsstarrig und wirtschaftspolitisch orthodox, feindlich gegenüber den bürgerlichen Freiheiten und im Kern illiberal, nationalistisch, nostalgisch, aber mit dem Ziel, respektabel zu sein und den Platz dessen einzunehmen, was man früher Establishment nannte, auch indem man den Rechtsstaat nicht untergräbt, wie es Viktor Orbán getan hat.

Gerade weil Giorgia Meloni keine faschistische Ausgestoßene ist, bietet ihr Handeln eine Blaupause, wenn nicht für die Welt, so doch für Europa.

Die Zeiten, in denen der Sieg von Rechtspopulist*innen und -extremist*innen undenkbar oder unhaltbar schien, sind vielleicht vorbei. Möglicherweise befinden wir uns stattdessen in einer neuen degenerierten rechten Normalität, in der der ehrenwerte und notwendige Platz in einer Demokratie – der Platz, der von Jacques Chirac, Margaret Thatcher oder Angela Merkel eingenommen wurde – pervertiert und konsequent von Trump und Melonis besetzt wird. 

Diese Degeneration wurde in den USA von der Republikanischen Partei angeführt, die der FT-Kolumnist Edward Luce zu Recht als eine "nihilistische, gefährliche und verachtenswerte" politische Kraft bezeichnete. Die eine Hälfte des traditionellen politischen Spektrums in den USA ist weggebrochen und hat die Gesundheit der amerikanischen Demokratie mit sich gerissen. Derselbe Prozess – und nicht das sensationelle Auftauchen einer faschistischen, aber letztlich kurzlebigen Regierung in Italien – könnte sich auch in Europa vollziehen.

Die Theorie wird in weniger als einem Jahr in Spanien auf die Probe gestellt werden, wo sich ein Bündnis zwischen der rechtsextremen Vox und der schnell schwächelnden Mitte-Rechts-Partei anbahnt.

Es ist bedauerlich, dass die italienischen Progressiven diesen Wandel ermöglicht haben. Das linksliberale Lager hat insgesamt mehr Stimmen erhalten als das Rechtsbündnis. Aber der rechte Flügel war eben ein Bündnis, während das fortschrittliche Feld zersplittert war und in dem teilweise nach dem Prinzip der Mehrheitswahl organisierten Wahlsystem stark abgestraft wurde. Die Mitte-Links-Demokrat*innen unter der Führung von Enrico Letta legten ein Veto gegen jedes Bündnis mit der linken Fünf-Sterne-Bewegung ein, und die zentristischen Liberalen ihrerseits ein Veto gegen die Demokraten. Dieser unkooperative Narzissmus machte den Weg frei für den Sieg der Rechtsextremen in Italien.

Die Europäische Union könnte ein Opfer einer solchen Transformation werden. Meloni hat den gleichen instinktiven Widerstand gegen die europäische Integration wie die Rechtspopulist*innen. Das ist bedauerlich und gefährlich: Die EU ist dabei, die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips zu diskutieren, eine Maßnahme, die für eine starke Stimme in der Außen-, Verteidigungs- und Energiepolitik notwendig ist. Melonis traditionelle Verbündete, darunter Viktor Orbán, sind dagegen. Jeder erwartet nun von der italienischen Regierung, dass sie die antieuropäische Achse Budapest – Warschau stärkt.  

Doch warum müssen die Rechtsextremen zwangsläufig einen letztlich selbstzerstörerischen Antagonismus gegenüber der EU unterstützen? Italiens nationales Interesse liegt in einer starken Europäischen Union, die in der Lage ist, seine Bürger*innen in einer Zeit der geopolitischen und wirtschaftlichen Krise zu verteidigen. Wenn Meloni wirklich Geschichte schreiben wollte, sollte sie die erste pro-europäische rechtsextreme Politikerin werden, die den italienischen mit dem europäischen Nationalismus verbindet. "Ein Europa, das schützt", könnte sie sagen, ein mächtiges Europa, das keine Zeit mehr mit Rechten und Werten verschwendet und sich stattdessen auf die harte Macht konzentriert, die den europäischen Nationalstaaten entgeht: Waffen, Energie und Außenpolitik. Eine Mischung aus Le Pen zu Hause und Macron im Ausland. Das ist unwahrscheinlich.

Wie in der EU-Politik ist es auch in anderen Bereichen möglich, dass Meloni das alte extrem-populistische Drehbuch beibehält, das Land in endlose Migrationsdebatten stürzt, andere europäische Hauptstädte ausgrenzt und mit einer rücksichtslosen Wirtschaftspolitik finanzielle Verwüstungen anrichtet. Wenn sie dies tut, wird sie nur eine weitere Etappe in dem endlosen Kreislauf von Extremismus und Technokratie sein, der die moderne italienische Politik kennzeichnet. Wenn sie jedoch an ihren langfristigen Zielen festhält, könnte es ihr gelingen, den europäischen rechten Mainstream auf ihre Trump'sche Reise mitzunehmen.

Debord betrachtete die internationalen Folgen des Handelns Italiens als politisches Labor. Andere Regierungen, sagte er, "bewundern den italienischen Staat für die ruhige Würde, mit der er sich im Schlamm suhlt". Vielleicht war er da zu optimistisch. Dies ist kein Schlamm, sondern Treibsand. Und er zieht jede*n, die*der ihn zu lange bewundert, mit sich.


This text was originally published in English on The Guardian.
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    Asta Gröting, Berlin Fassaden, 2017. Courtesy the artist.

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