Blick in das Atelier der Künstlerin: „Am Anfang steht das Sichten des möglichen visuellen Arbeitsmaterials, das die Künstlerin gesammelt hat und von dem sie in ihrem Atelier umgeben ist: Familienfotos, Magazin- und andere Medienbilder, Ergebnisse von Recherchen – ein persönliches, auch inneres „Archiv“, in dem Erlebnisse, Eindrücke und Sichtweisen einer Frau des 21. Jahrhunderts mit postmigrantischer Biografie sedimentieren.“ [Bernhart Schwenk, s. o.]
Eine postmigrantische Biographie, was das bedeuten (kann): „Wir lassen uns nicht mehr von euch definieren, sondern definieren uns selbst. Doch dieses ‚Wir‘ ist nicht einheitlich, sondern basiert auf einer Allianz, die real wird durch kollektive Aktionen, indem wir bestimmte Haltungen und Praktiken ersinnen [...]. Uns eint nicht das Schicksal, sondern der gemeinsame Bezug auf eine migrantische Erfahrung und ein marginalisiertes Wissen.“ [Universität Osnabrück, Postmigrantisch, aus: Inventar der Migrationsbegriffe]
Im vierten Raum erweitert eine Taubenschlaginstallation Ünlüs Erkundung des Grenzüberschreitens. Ein flächendeckendes orientalisches [?] Ornament: „Echos der Migration“, so die Künstlerin.Tauben: in ihrer Abwesenheit eine unheimliche Erinnerung daran, wie sie einst für königliche Räume als Haustiere sowie als Nutztiere domestiziert wurden, jetzt aber wie so viele vertriebene Wesen durch die städtische Wildnis navigieren. Fünf Tauben haben den Raum für einige Stunden erobert, Aufnahmen dieser Performance sind groß eingeblendet. Jetzt sind sie noch geisterhaft zu erahnen, sucht man Spuren, hört man da einen Nachhall der beiden Tiere? Die Taube und der Mensch, diese Gegenüberstellung zieht eine Analogie zur deutschen Gastarbeitergeschichte, wo die einst eingeladenen Menschen nun das Unbehagen ertragen, als Übermaß angesehen zu werden, ihre Anwesenheit und Beiträge durch eine sich ständig verändernde gesellschaftliche Perspektive eingerahmt werden. In diesem Raum werden u.a. (interspezifische) Sichtbarkeiten ebenso verhandelt wie Fragen der Berechtigung, Veränderung der Perspektive und Wahrnehmung und damit einhergehende Parallelitäten.
Einschub über die Künstlerin: „Als Kind einer sogenannten Gastarbeiter*innenfamilie der dritten Generation war für sie die Vorstellung, ein Kunststudium aufzunehmen, weit entfernt. In ihrer künstlerischen Arbeit reflektiert sie die erlebten Ausschlussmechanismen und die Erfahrung des Dazwischen.“ [Klassenfragen, s. o.] Hören wir das Echo von Tauben, wie sie vor uns über dem Bürgersteig laufen und plötzlich mit schnellen Flügelschlägen davonfliegen? Sehen wir die Geister derTauben, die vor uns in diesem Raum waren, schon immer da waren? „Die Vögel sind zufällig hier, wir sind zufällig hier, und vielleicht waren auch die Nazis nur zufällig hier [...] vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes, keiner weiß warum wir hier sind.“ [Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras, S. 171]
„Vertreter*innen der postmigrantische Generation nehmen keine Rücksicht auf nationale Erzählungen, sondern versuchen, andere Geschichten zu erzählen, andere Fragen zu stellen und andere Biografien zu entwerfen. Das Erfahrungswissen, was bisher ignoriert und marginalisiert wurde, wird zum Ausgangspunkt genommen und zumTeil privilegiert. Die Angehörigen der postmigrantische Generation, die weiterhin mit negativen Zuschreibungen konfrontiert werden, scheinen eher als die erste Generation in der Lage zu sein, mit uneindeutigen, mehrdeutigen und ambivalenten Lebenswirklichkeiten umzugehen. Dazwischensein gehört zur Normalität und zu den Lebensentwürfen dieser Generation, eine Art kreativer Desorientierung.“ [Universität Osnabrück, s. o.]
„ultrahappy“ ist eine eindringliche Erkundung der Vergangenheit, der Gegenwart und der fragmentierten Zukunft, wobei Ünlüs Praxis am Scheideweg der überladenen, aber dennoch generativen Verflechtungen der zeitgenössischen Kunst steht.