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AGAPE UND ATEMSCHUTZ

Wir müssen aufhören uns gegenseitig der Dummheit zu bezichtigen.

  • Oct 13 2021
  • Ilkay Aydemir
    ist Kunsthistoriker, Literatur- und Kulturwissenschaftler. Als freier Autor beschäftigt er sich
    hauptsächlich mit Kunstkritik und Gedichten. Er lebt in Stuttgart und Lüneburg.

Eine Nase, die sich aus einer Atemschutzmaske ihren Weg in das Licht der öffentlichen Verkehrsmittel kämpft, lässt sich auch noch unter Einhaltung des Mindestabstandes erkennen. Noch nie war es so einfach die Gesinnung unserer Mitmenschen zu erkennen. Die Rentner*innen mit FFP2-Maske und Handschuhen kommunizieren ihre Einstellung genauso wortlos wie die Supermarktbesucher*innen, die ihre OP-Maske erst von unter dem Kinn über den Mund wandern lassen, wenn sie an der Kasse stehen. Die Pandemie hat einen ungewöhnlich sichtbaren Spalt zwischen uns getrieben.
Vor wenigen Wochen, nach einer Bahnfahrt mit vielen entblößten Gesichtsöffnungen wollte ich mir noch schnell im Supermarkt mein Abendessen besorgen, als ich über den Tomaten eine weitere Nase schweben sah. Wütend, ungeduldig und verständnislos sah ich mich gezwungen zu intervenieren: „Könnten Sie bitte ihre Nase einpacken? Danke.“ Irritiert zog ein Mann mittleren Alters seinen Mundschutz richtig an, während ich die Gemüseabteilung hinter mir ließ. Bei den Eiern wurde ich eingeholt. Erst überholte mich eine schon wieder nackte Nasenspitze, dann ein erregter Körper. Kopfschüttelnd baute ich verachtenden Augenkontakt auf: „Was ist mit dir?“ Die Reaktion ließ keine Sekunde auf sich warten: „Halt deine Schnauze! Und lern mal richtig zu recherchieren! Wegen Leuten wie dir geht grad die Welt unter!“ An einem Tag, den ich größtenteils in der Bibliothek verbrachte, wurde ich abends öffentlich angeschrien, dass ich mal lernen sollte, wie man richtig recherchiert. „Ach, du bist einer von diesen Spinnern“, gab ich verachtungsvoll lächelnd von mir und ließ den Mann einfach stehen. Ich war mir sicher, dass er diese peinliche Erfahrung nicht so schnell vergessen und beim nächsten Mal seine Maske richtig tragen wird.
Für diejenigen unter uns, die das Glück hatten, keine Krankheitsfälle im privaten Umfeld zu verzeichnen, hat die Pandemie dennoch eine unerwartete Wirkung entfalten. Während man* die überfüllten Krankenhäuser nur medial gefiltert wahrnahm, beanspruchten die zwischenmenschlichen Konflikte einen Raum, der durch die Isolation der Quarantäne bereits stark beschränkt war. „Wegen Leuten wie dir geht gerade die Welt unter!“ Dieser Satz stellt momentan vielleicht die einzige Aussage dar, auf die wir uns alle einigen können.
Ihr habt gehört, daß gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.“
Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.[1]
In seiner Predigt „Loving Your Enemy” beschreibt Martin Luther King die Bedeutung der Liebe mit einem Pragmatismus, der die mittlerweile über 50 Jahre alten Aussagen auch ohne religiöse Weltanschauungen für unsere heutige Situation fruchtbar machen lässt. Dabei unterscheidet er zwischen drei Formen der Liebe anhand der unterschiedlichen griechischen Begriffe. Eros, die romantische Liebe und philia, die gegenseitige Liebe zwischen Freunden, sind für uns nicht derart interessant wie agape, die verstehende, wohlwollende, göttliche Liebe. Sie ist wichtig für uns, weil es sich bei agape um eine Liebe handelt, die man* auch Menschen entgegenbringen kann, deren Taten man verurteilt. Es gilt zu betonen, dass die jahrhundertelange, systematische Unterdrückung der afro-amerikanischen Bevölkerung in ihrer Unmenschlichkeit nicht mit unserer Lage vergleichbar ist. Gerade deshalb sind die Worte Martin Luther Kings in ihrer liebevollen Ruhe so beeindruckend und sollten uns Anlass bieten, die Art und Weise wie wir Menschen anderer Meinung entgegentreten zu reflektieren.

The words of this text glitter in our eyes with a new urgency.
Far from being the pious injunction of a utopian dreamer, this
command is an absolute necessity for the survival of our
civilization. Yes, it is love that will save our world and our
civilization, love even for enemies.[2]

Einige Wochen nach dem Vorfall begegnete ich meinem Feind aufs Neue. Und siehe da, die Maske saß perfekt. Doch als sich unsere Blicke kreuzten, zog er die Maske herunter, um seine rebellische Nase zu entblößen. Die gesamte Pandemie über habe ich Menschen in öffentlichen Räumen darauf angesprochen, dass sie ihre Maske richtig anziehen sollen. Ich war mir sicher, dass eine offene Konfrontation dafür sorgen würde, dass sich diese Personen schämen und sich in Zukunft anders verhalten würde. Es ist schwierig sich vorzustellen, wie man liebevoll auf dieses Verhalten reagieren kann. Aber wir müssen aufhören uns gegenseitig der Dummheit zu bezichtigen. Martin Luther King scheint mich direkt anzusprechen, wenn er sagt: „There might be something within you that arouses the tragic hate response in the other individual.[…] Don’t do anything to embarrass them.” Ich verstehe, dass mein Supermarkt Freund wütend auf mich reagiert, wenn er wirklich glaubt, dass sich die Welt momentan wegen Menschen wie mir Untergang befindet. Wir müssen verstehen, wie das Weltbild unserer Mitmenschen zustande kommt, dass sie Opfer von Techniken der digitalen Meinungsmache sind und dass es rechtsradikale Netzwerke gibt, die genauso gezielt wie erfolgreich die Wahrnehmung unserer Mitmenschen beeinflussen. Liebe ist tatsächlich das Gebot der Stunde, wenn wir uns nicht aus den Augen und in den Filterblasen verlieren wollen. Lauschen wir ein letztes Mal Martin Luther King, dessen Worte wir nicht nur auf die Pandemie beziehen sollten:

Love is creative, understanding goodwill for all men. It is the
refusal to defeat any individual. When you rise to the level of
love, of its great beauty and power, you seek only to defeat evil
systems. Individuals who happen to be caught up in that system,
you love, but you seek to defeat the system.

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  • FOOTNOTES
    .
    [1] Mt 5, 43–44
    [2] Martin Luther King Jr.: „Loving Your Enemies,“ Predigt, gehalten in der Dexter Avenue Baptist Church am 17. November 1957. Alle folgenden Zitate sind dieser Predigt entnommen.

    IMAGE CREDITS
    .
    Screenshots, Universal Tongue Publication by Anouk Kruithof

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