Mit REINVENTING GRASSI sucht das GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig neue Wege zwischen Verantwortung, einer Ausstellungsumgestaltung und seiner Rolle in einem Netzwerk aus transnationalen Akteur*innen, Initiativen und einer postmigrantischen Gesellschaft. [1]
Kein einfacher Prozess, denn dieser muss zwangsläufig mit Erwartungshaltungen auf unterschiedlichen Ebenen brechen und mit einer kritischen Selbstreflexion einhergehen. Diesen gehen wir, im Sinne des Netzwerkgedankens, gemeinsam mit einer Vielzahl unterschiedlicher Akteur*innen an. Dabei haben uns bis heute um die 270 Partner*innen, Freund*innen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Initiativen und nicht zuletzt Vertreter*innen von Herkunftsgemeinschaften auf unterschiedliche Weise begleitet.
Dieses Vorhaben ist auch mit Hindernissen, lehrreichen Momenten und der Feststellung verbunden, dass Pläne zwar gut sind, der gemeinsame Weg aber auch in eine unerwartete Richtung verlaufen kann. Ein Museum in Bewegung kann nicht ankommen, sondern lädt auf eine Reise ein - und zwar nicht mehr, wie noch vor einigen Jahren, entlang von Regionen und der Beschreibung der dort lebenden Menschen anhand ihrer materiellen Erzeugnisse. Wir bewegen uns vielmehr zwischen der Reflexion der eigenen Geschichte und Einblicken in aktuelle gesellschaftliche Themen in einem globalen Kontext. Da die Aushandlungen von Themen, wie die Übernahme von Verantwortung kolonialen Unrechts, ein gemeinsam gestaltetes Erinnern im Rahmen der Rückführung von Ahn*innen (human remains) oder aktuelle Fragestellungen zu Restitutionen langwierige und sensible Aushandlungsprozesse sind, liegt der Gedanke eines finalen Abschlusses fern. Das zeigt sich in den bereits neu gestalteten Bereichen, welche seit der ersten Teileröffnung der neuen Ausstellungsbereiche am 4. März 2022 immer wieder angepasst wurden. Netzwerk bedeutet für uns als ethnologisches Museum weniger, eine belehrende Institution zu sein, als vielmehr eine lernende, zuhörende. Kritik ernst zu nehmen und gegebenenfalls das bereits Erreichte wieder zu korrigieren, ist nicht nur ein Zeichen dafür, wie wir den oft geforderten Begriff Transparenz verstehen. Es ist gleichsam Bedingung für eine gemeinsam gestaltete Zukunft, zu der das Museum einen Beitrag leisten kann, muss und will. Neben der Übernahme von Verantwortung geht es vor allem um Vertrauen – insbesondere den Menschen gegenüber, die eine besondere Verbindung zu den Objekten haben und denen durch koloniale Machtverhältnisse ein Mitspracherecht versagt oder nur auf einer Kommentarebene als nützliche Quelle zugestanden wurde.
Es ist eine der derzeit herausforderndsten Aufgaben, das einem Museumspublikum zu vermitteln. Denn dies geht mit einem Bruch von Erwartungen einher. Für manche Besucher*innen bedeutet das konkret, den gewohnten Blick zu verlernen. Über Zuschriften wissen wir, dass eine Erwartung an ein Völkerkundemuseum ist, die Welt im Kleinen zu bereisen, Urlaubserinnerungen aufzufrischen, das „Fremde“ zu erleben, über Unbekanntes zu staunen und sich all das von einer als neutral und objektiv wahrgenommenen Stimme erklären zu lassen. Das klingt zunächst harmlos. Besonders im historischen Kontext wurde während der DDR-Zeit das Museum immer auch als Sehnsuchtsort für gedankliche Reisen dorthin wahrgenommen, wo die Menschen selbst nicht hin durften. Heute hat sich die Welt gewandelt. Die Sehnsucht kann durch eine Vielzahl an digitalen Angeboten in wenigen Sekunden und von jedem Ort aus befriedigt werden. Mit der Generation Z kommen junge Menschen ins Museum, die sich selbst Wissen erschließen möchten, die kritisch sind, die Fragen nach der historischen Verantwortung stellen und Zukunftsperspektiven aktiv mitgestalten wollen. Vertreter*innen von Herkunftsgemeinschaften fordern Teilhabe ein. Schließlich kann eine europäische und zu großen Teilen bis heute weiße Institution wie ein Museum einer postmigrantischen Gesellschaft nicht mehr belehrend gegenüberstehen. Gerade in einem ethnologischen Museum geht es um polyphone Geschichten, Weltsichten, Interpretationen und letztlich auch um generationelle Aushandlungen. Diese sind nie eindeutig, dennoch wird bis heute von einem Museum erwartet, dass es objektive Wahrheiten und wissenschaftliche Ordnungen vermittelt. Wir wollen uns von dieser selbstreferentiellen „Objektivität“ lösen. Wir möchten vielmehr ein Museum sein, in dem Wissen aus einer historischen Verantwortung heraus und vor allem zusammen mit Herkunftsgemeinschaften neu verhandelt wird. Wir haben nicht DIE Antwort, vielmehr bieten wir verschiedene Zugänge zu Themen. Vor allem sagen wir: Es ist kompliziert, weil die Welt kompliziert ist. Daher besteht die Kernaufgabe des Museums darin, komplexe Inhalte greifbar zu machen, zwischen ihnen zu vermitteln und Teilhabe zu ermöglichen.
Dazu einige Beispiele: Den Auftakt der neuen Ausstellung bildet die Zeit des zweiten Direktors Karl Weule zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab. Er wusste die kolonialen Machtstrukturen geschickt zu nutzen, um zusammen mit einem Netzwerk aus weltweit agierenden Sammler*innen die Bestände des Museums um 120.000 Inventareinträge zu erweitern. Teil von Weules Netzwerk war Hans Meyer, der sich 1889 als „Erstbesteiger des Kilimandscharo“ feiern ließ. Er schlug einen Gipfelstein des Kraters ab und schenkte eine Hälfte Kaiser Wilhelm II. Sogleich benannte er den höchsten Berg des afrikanischen Kontinents in Kaiser-Wilhelm-Spitze um. Dahinter verbirgt sich eine koloniale „Machtgeographie“, wie sie Meyer selbst bezeichnete. Das Künstler*innenkollektiv PARA nahm sich dieser Geschichtemit den beiden tansanischen Künstlerinnen Rehema Chachage und Valeri Asiimwe Amani an. Eine Hälfte des Steins ist vor wenigen Jahren in einem österreichischen Antiquariat aufgetaucht, auf das PARA aufmerksam wurde. In einer Produktionsstraße in der Ausstellung stellt das Kollektiv mit Besucher*innen Skrupel her, und zwar aus einem vormaligen Porphyrsteinsockel, auf dem eine Bronzebüste Weules bis 2019 stand. Diese 3D-Abformungen des Gipfelsteins können Besucher*innen anschließend erwerben. Mit dem Erlös will die Gruppe den Stein aus dem Antiquariat “freikaufen” und nach Tansania zurückbringen. Hier wird das Thema Restitution auf eine partizipative Art und Weise aufgegriffen und eine komplexe Aneignungsgeschichte mit künstlerischen und performativen Mitteln auf einer anderen Ebene erzählt. In Kollaborationen sind auch die weiteren Räume entstanden: Einblicke in die derzeitige Restitutionsdebatte und Geschichte um die Benin-Bronzen mit Emeka Ogboh, Enotie Paul Ogbebor und Mary Osaretin Omoregie, Klanggeschichten von den Andamanen und Nikobaren und die Frage nach Massentourismus und Klimawandel mit Prince Rashid Yusoof oder der Bereich (un)sichtbar als vielstimmige Auseinandersetzung mit den Themen Geschlecht und Sexualität in Zusammenhang mit Macht, gesellschaftlichen Normen und kolonialen Verflechtungen. Denn im REINVENTING-Prozess mussten wir immer wieder feststellen, dass selbst in den neuen Ausstellungsbereichen zum großen Teil männliche Stimmen zu Wort kommen bzw. männliches Wissen reproduziert wird. Daher suchten wir zusammen mit einem Netzwerk aus Critical Friends nach Ansätzen, diese Form der Wissensproduktion zu durchbrechen. Es geht darum, den Menschen, die von der Institution Museum ausgeschlossen sind, eine Stimme zu geben und bisher wenig sichtbaren Perspektiven eine Plattform zu bieten. So arbeiteten wir allein an diesem Ausstellungsteil fast zwei Jahre lang mit mehr als 30 Akteur*innen zusammen. Viele Ideen wurden für diesen Raum entwickelt, mindestens genauso viele verworfen. So ist es vor allem unser Netzwerk, das hier spricht. Dieser Raum ist ein Anfang, die Strukturen und Narrative im Museum zu verändern, uns selbst als Institution zurückzunehmen, andere sprechen zu lassen und damit auch bestimmte Perspektiven sensibler zu betrachten und zuzulassen. Es geht um ein Aushalten und Akzeptieren von Lesarten und Assoziationen, die im ersten Moment das historisch gewachsene heteronormative (männliche) Wissen in Frage stellen und damit vielleicht auch uns selbst in Frage stellen. Um diesen Ansatz auch den Besucher*innen gegenüber zu verdeutlichen, eröffnen wir den Raum mit der Methode des powersharing: Im Ausstellungsraum sind ausschließlich externe Perspektiven auf die Objekte zu sehen, die erwartbare museale Stimme tritt zurück. Dies zeigt sich an zwölf ausgewählten Objekten aus den Sammlungen, die von 14 Personen assoziativ, lyrisch, künstlerisch oder wissenschaftlich gelesen wurden: zum Beispiel in Form eines Gedichts, wie bei einem Beitrag von Hinemoana Baker aus Aotearoa (Neuseeland), die sich durch ihren biografischen Bezug mit Poi Poi genannten Tanzbällen lyrisch auseinandersetzte. Aber auch filmische Beiträge, wie der von Filipa Pontes und Carina Ubisse Capitine, oder wissenschaftliche Exposés geben den Dingen bisher nicht beachtete Bedeutungen zurück. So bietet dieser Raum vielfältige Möglichkeiten, vermeintliche (persönliche) Grenzen zu hinterfragen, zu durchbrechen und die Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten.
Ein weiteres Beispiel sind Aushandlungsprozesse, die neben dem Zukunftsprojekt REINVENTING GRASSI umgesetzt werden und das Museum in einem transdisziplinären Netzwerk verorten. Die Sonderausstellung „Ausgestellt und Ausgestopft? Versuch einer Begegnung mit Jüdischen Museen” (Mai 2023 – Januar 2024) entstand gemeinsam mit dem Jüdischen Museum Hohenems und beschäftigte sich mit der Repräsentationsgeschichte zweier Museumstypen, die aus unterschiedlicher Motivation heraus Gruppenidentitäten teils bis heute konstruieren und die damit bewusst oder unbewusst Othering betreiben. Während Jüdische Museen eine vermeintliche Essenz des Judentums für eine nicht-jüdische Dominanzgesellschaft entlang von als jüdisch klassifizierten Objekten entwarfen, wurde in Völkerkundemuseen das “Fremde” entlang eines weißen Blickes exotisiert und beschrieben. In beiden Fällen führten diese aus einer vermeintlichen Objektivität heraus entstandenen Blickregime dazu, die Beschriebenen zu vereinfachen und sie so zu formen, wie sie der Vorstellung der Dominanzgesellschaft oder der eigenen Vorstellung von Identität am besten dienten. Die Reflexion in dieser Gegenüberstellung von Jüdischen- und Völkerkundemuseum bestand ferner darin, über ihre Gemeinsamkeiten Schlüsse über die Frage nach einer Ethik der Repräsentation zu ziehen. Paul Grosz, Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, reagierte 1989 auf die Frage nach der Gründung eines Jüdischen Museums in Wien mit der Gegenfrage, ob Jüdinnen und Juden in so einem Museum wie „ausgestopfte Indianer” bestaunt werden sollten. [2] In den Völkerkundemuseen durch Dioramen und Figurinen bereits Realität, befürchtete Grosz, dass eine Musealisierung das Jüdische nicht nur auf Ewigkeit festschriebe, sondern es auch jeglicher Neuverhandlung und Bewegung entziehe. Steht der Mensch erst einmal in einer Vitrine, symbolisiert durch eine Figurine, dann ist er den Blicken der Betrachter*innen wehrlos ausgesetzt. Dann wird über ihn gesprochen und nicht mit ihm. Die Ausstellung fragte daher auch danach, was bleibt. Sind es etwa leere Vitrinen, in die sich Jüdinnen und Juden zum „Anfassen“ setzen können, wie in der Sonderausstellung des Jüdischen Museums Berlin aus dem Jahr 2013, die den Titel „Gibt es noch Juden in Deutschland?” trug?- Sie rief damit den Völkermord des nationalsozialistischen Deutschlands an den europäischen Jüdinnen und Juden ins Gedächtnis und verwies auf ein allgemeines Unbehagen gegenüber einem gelebten Judentum. Eine leere Vitrine in einem ethnologischen Museum wirft andere Fragen auf. Viele der Dinge, die die Vitrinen füllen, hinterlassen bis heute schmerzhafte Leerstellen bei den Herkunftsgemeinschaften. Darüber hinaus rufen sie die kolonialen Völkermorde des Deutschen Kaiserreiches ins Bewusstsein, die mit gewaltsamen Plünderungen von persönlichen Gegenständen und menschlichen Überresten einhergingen, die anschließend in Museen gelangten. Heute wird dieses Unrecht anerkannt; und doch gibt es immer noch Menschen, die Rückgaben und die daraus resultierenden Leerstellen im Museum schmerzen oder die Restitutionen prinzipiell hinterfragen. Ist der Anblick einer leeren Vitrine im ethnologischen Museum also schmerzhafter als das Wissen darum, dass die Dinge an ihre Ursprungsorte zurückkehren? “Die Triumphzüge der einen sind die Klagelieder der anderen”, schrieb der südafrikanische Künstler William Kentridge, dessen Zitat die Ausstellung begleitete. Den kolonialen Triumphzug des Museums als Schmerz zu verstehen und an einer gemeinsamen Erinnerung zu arbeiten, ist ebenso Teil von REINVENTING GRASSI und eine wichtige Aufgabe, deren Vermittlung eine besondere Priorität besitzt.
Ein ebenso bedeutender Teil der Aushandlungsprozesse bezieht sich auf die stetig diverser und heterogener werdende Stadtgesellschaft, für die der Bereich Bonvenon:Spielräume entstanden ist. Bereits der Titel verweist auf eines der Spannungsfelder, in denen sich ethnologische Museen bewegen – „Bonvenon“ heißt „Willkommen“ auf Esperanto. Das Experiment Esperanto, das vornehmlich aus europäischen Sprachen entstanden ist und heute kaum benutzt wird, beinhaltet zentrale Fragen wie: Mit welcher Sprache beschreiben wir die Welt? Wer spricht wie über wen?
Der Bonvenon-Raum greift darüber hinaus die anhaltende Diskussion um Museen als Dritte Orte und ihre soziale Relevanz auf. So entstand ein Raum im Raum. Die inhaltliche Vierteilung fächert sich in ein „Wohnzimmer“ mit Spielen und (Braille-)Büchern, eine „Bühne“ als Veranstaltungsort, ein „Atelier“ als Plattform für kreative Projekte von und mit Communities und die Installation der ehemaligen Leipziger Kneipe „Weißes Roß“ als Referenzpunkt für Willkommensgefühl, DDR- und Museumsgeschichte.
In allen vier Bereichen arbeitet das Museum mit unterschiedlichsten Akteur*innen der Stadtgesellschaft zusammen: Während im Wohnzimmer regelmäßig der Behindertenverband Leipzig zum inklusiven Spielenachmittag lädt, im Bereich der Bühne ein Spieletreff für PoC-Kids und ihre Eltern stattfindet und in der Kneipe Begriffe wie „Willkommensgefühl“ und „Geselligkeit” durch Interviews mit Leipziger Barkollektiven und Community-Projekten kritisch reflektiert werden, finden im Atelier Kreativprojekte statt.
Eines dieser Projekte wurde zusammen mit der Initiative Frauen in Arbeit als Teil der Frauenkultur Leipzig entwickelt. Gemeinsam mit Textilexpertinnen aus Syrien und dem Irak sowie dem nachhaltigen Textilprojekt Leipzig Wardrobe entstand daraus die Idee eines Handarbeitsateliers im Museum. Hier arbeiten die Expert*innen an textilen Lösungen für aktuelle soziale und ökologische Fragen und über die gemeinsame Arbeit ergeben sich Nachbarschaftskontakte.
In all den genannten Beispielen kommt es zu einem produktiven Austausch und natürlich auch zu Spannungen, die den gemeinsamen Weg immer wieder neu ausloten. Sie geben gleichsam einen Einblick darin, was ein Netzwerk in seiner konkreten Umsetzung bedeuten kann. Das wichtigste Ziel im REINVENTING-Prozess ist dabei immer die Umsetzung von Partizipation. Auch die vielfältigen Bedürfnisse und Wünsche der Akteur*innen des Netzwerkes stehen im Vordergrund. Wir geben die Deutungsmacht in den Museumsräumen ab. Das mag schwer fallen in einer Umgebung, die nicht gewohnt ist, Wissen gleichwertig zu betrachten oder das eigene Wissen zu hinterfragen. Doch genau hierin liegt die Zukunft eines Netzwerkmuseums.
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- FOOTNOTES
[1] REINVENTING GRASSI wurde bis Ende 2023 durch die Initiative ethnologische Sammlungen der Kulturstiftung des Bundes gefördert. Der Prozess ist dadurch aber nicht abgeschlossen und begleitet das Museum weiterhin.
[2] www.jm-hohenems.at/ausstellungen/rueckblick/ausgestopfte-juden (Zugriff: 12.04.2024)
IMAGE CREDITS
Cover: Bonvenon-Raum © Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Tom Dachs.