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AUTONOMIE ALS KATALYSATOR FÜR KOLLEKTIVEN WANDEL

Metaphysische Leitfäden aus dem Daoismus.

  • Essay
  • Feb 22 2023
  • Sofia Willer
    hat vergleichende und interkulturelle Philosophie studiert und lebt in Berlin.

Daoistische Philosoph*innen beschäftigen sich seit Jahrtausenden mit der Frage nach Freiheit und Autonomie als Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung. (1) Doch dieselben Begriffe sind in heutigen Kapitalstrukturen zu Parolen des freien Marktes geworden, die die Isolation des Menschen und die einseitige Verteilung der Produktionsmittel kaschieren sollen. Die sogenannte Dezentrale Autonome Organisation, kurz DAO, versucht mit Blockchain-Technologien alternative und transparentere Formen der ökonomischen Organisation zu etablieren. Trotzdem kann der unkritische Umgang mit Autonomie und Dezentralität die Unzugänglichkeit von wirtschaftlichen und sozialen Prozessen und die Vereinzelung innerhalb dieser Strukturen weiter fördern. Grund genug, uns an den daoistischen Philosophen Zhuangzi zu wenden und mit seiner Hilfe zu fragen: Wie kann Autonomie aus der Isolation herausführen und sogar zum Katalysator für den kollektiven anti-kapitalistischen Wandel werden? 

Zhuang Zhou (Zhuangzi), die Schlüsselfigur und der vermutete Autor eines Großteils des Buches “Zhuangzi”, durchstreift ca. 300 Jahre v. Chr. die Welt autonom, fern von offiziellen Ämtern und Institutionen. Dabei erzählt er nicht von Herrscher*innen und Kriegen, sondern Geschichten über glückliche Fische, alte Bäume und meisterhafte Köch*innen. Verwundert über die Launen der Natur, beschäftigt er sich mit dem Wandel der Dinge. Es geht um die Vergänglichkeit des Lebens, die Unbeständigkeit der eigenen Identität und die scheinbar unlösbaren Widersprüche in der menschlichen Wahrnehmung. 

Wer erkennt, dass nichts bleibt, wie es ist, dass Zerstörung und Aufbau Teil derselben Realität sind, kann, so Zhuangzi, die zwangsläufigen Veränderungen des Lebens besser tragen. In der Welt herumstreifen, sich verirren und auf unbekannten Wegen wiederfinden, hilft dabei, sich diesen unaufhörlichen Bewegungen des Universums anzupassen und sie ins eigene Handeln fließen zu lassen. Denn die Erfahrung, dass sich alles immer und überall verändert, ist entscheidend, um erstarrte Weltanschauungen und vermeintliche Wahrheiten zu entzaubern und zu verwerfen. 

Anders als eine Autonomie, die auf der Isolation und der misstrauischen Disposition einzelner Individuen fußt, können wir durch Zhuangzis Auseinandersetzung mit Wandel und Wahrnehmungen ein neues Verhältnis zur autonomen Bewegung entwickeln. Durch die eigene Erfahrung von innerlicher und äußerlicher Veränderung können wir uns den Emotionen und Standpunkten anderer besser nähern und so die Grenzen von Richtig und Falsch, von Selbst und Andere*r kontinuierlich aufbrechen. Das autonome Herumwandern motiviert diese empathische Auseinandersetzung mit verschiedenen Lebenswelten und so entsteht aus dem Prinzip des ewigen Wandels eine Bewegung aus dem Individuum heraus, die Voraussetzung für jegliche soziale und politische Veränderung. 

Dass wir die Zhuangzi und den Daoismus nicht als Handbuch für eine Revolution nutzen können, ist klar. Und auch, dass die “Zhuangzi” keine marxistische Analyse der materiellen Umstände Chinas vor zweitausendvierhundert Jahren war. Fragen nach kollektiven Zusammenschluss und Revolution sind nicht Gegenstand von Zhuangzis Gedankenwelt. Doch wir finden in ihr wichtiges philosophisches Werkzeug, um revolutionär denken zu lernen. Konfrontiert mit neuen Modellen der finanziellen und politischen Organisation, mit neuen Strukturen der Unterdrückung, kann Zhuangzis Auseinandersetzung mit Wandel und Perspektiven ein metaphysischer Leitfaden für kritische Analysen sein. Und auch das Herumwandern – die bewusste Bewegung zwischen widersprüchlichen Wahrnehmungen – ist eine revolutionäre Praxis. Orientiert am stetigen Wandel der Dinge, schärfen wir die Fähigkeit, uns im Chaos zu bewegen, Komplexität zu begrüßen, Zweifel zum Begleiter unseres Lebens zu machen und Unvorhersehbarkeit als Sprungbrett zu nutzen, um im richtigen Moment Veränderung nicht nur zu erleben, sondern auch aktiv voranzutreiben. Autonomie kann also ein Katalysator für kollektiven Wandel sein. Solange wir nicht den Rückzug in uns hinein, sondern aus uns heraus üben und uns autonom, außerhalb von Konventionen und subtiler Ideologie, organisieren.

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  • FOOTNOTES
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    1. Der Daoismus ist eine philosophische und religiöse Strömung des alten Chinas, die in späteren Jahrhunderten zusammengetragen und kanonisiert wurde. Zu Grunde liegen ihr die mysteriöse Natur des “Dao” (Weg oder Pfad) und die ethischen und gesellschaftlichen Konsequenzen, die aus dieser Natur erwachsen.

    IMAGE CREDITS

    Silke Nowak, Untitled, 2012. © and courtesy the artist.

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