Dieser Text entstand vor genau einem Jahr, anlässlich der Premiere von "No Other Land" in Masafer Yatta, wo die Dokumentation gedreht wurde. Nach den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat sich die Lage für die Zivilbevölkerung in Masafer Yatta weiter verschärft. Im Schatten des Krieges in Gaza berichten Menschenrechtsorganisationen wie die israelische B'Tselem von einem drastischen Anstieg der Siedlergewalt, zunehmender Vertreibung, die Völkerrechtler teilweise als Ethnische Säuberung klassifizieren, und einer de-facto Annexion des Westjordanlands. Mit dem israelischen Luftangriff auf Gaza in der vergangenen Nacht endete nun auch der fragile Waffenstillstand.
Dass die israelisch-palästinensische Co-Produktion “No Other Land” ausgerechnet in Deutschland uraufgeführt wurde, führte zum Eklat: In der Dankesrede zur Preisverleihung für den Berlinale Dokumentarfilmpreis am 24. Februar 2024 bezeichneten die Regisseure Yuval Abraham und Basel Adra die Situation im Westjordanland als “Apartheid”, weil der Israeli und der Palästinenser dort auf ein und demselben Gebiet unterschiedlichen Rechtssystemen unterstellt sind. „Ich lebe unter Zivilrecht, Basel unter Militärrecht“, erklärte Abraham. Adra rief angesichts der vielen Opfer des Krieges im Gazastreifen zum Stopp von Waffenlieferungen an Israel auf.
Politiker wie Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner sprachen daraufhin von Antisemitismus. Israelische Medien warfen Adra daraufhin Antisemitismus in seiner Rede vor, was wiederum in deutschen Medien nachhallte. Abraham wurde nach eigenen Angaben auf dem Heimweg von Nachrichten mit Todesdrohungen von Israelis überschüttet. In seiner Heimatstadt bei Be’er Scheva stand ein wütender Mob vor dem Haus der Familie, seine Eltern flohen mitten in der Nacht. Sie fühlten sich so bedroht, dass sie fortziehen wollen.
“Ich finde es dreist, wie manche deutsche Politiker bei einer jüdischen Person, deren Familie im Holocaust ermordet wurde, Antisemitismus insinuieren”, sagte Abraham im persönlichen Gespräch. Dies nähme dem Wort “Antisemitismus” jedwede Bedeutung und werde oft gebraucht, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Grotesk sei auch, dass die Kulturstaatsministerin Claudia Roth in einem Interview mit dem SPIEGEL gesagt hatte, ihr Applaus habe nur dem jüdisch-israelischen Regisseur gegolten, ausgerechnet nachdem der von “Apartheid” gesprochen hat. Das sei aus ihrer Sicht „sehr problematisch, und das lehne ich ab“, sagte Roth in dem Interview. Zwei Wochen nach dem Eklat in Deutschland sind Adra, Yuval Abraham, Hamdan Ballal sowie Rachel Szor an den Drehort ihres Films zurückgekehrt, um “No Other Land” erstmals den Menschen in den Dörfern von Masafer Yatta zu zeigen. Menschen, deren Alltag von der israelischen Militärkontrolle und Siedlergewalt bestimmt ist.
Es ist Mitte März, und die Mondsichel schimmert vor einem Himmel aus zartem Rosa und Blau, als der Muezzin an diesem Frühlingsabend im Ramadan zum Gebet ruft in dem palästinensischen Dorf at-Tuwani im Westjordanland. Zum Fastenbrechen haben sich einige Dutzende Dorfbewohner, israelische Friedensaktivisten und internationale Medienvertreterinnen in dem Haus des palästinensischen Aktivisten und Journalisten Basel Adra Haus eingefunden, es gibt Pilaf und arabischen Kaffee.
Zurück im Westjordanland, zurück in der politischen Realität, in der der Film entsand, sagt Yuval Abraham: “Der Antisemitismus-Vorwurf wurde in einer Art instrumentalisiert, die mich und meine Familie gefährdet. Aber noch mehr gefährdet all das Basel, der hier unter einer Militärbesatzung umzingelt von gewalttätigen Siedlungen lebt.” Nach den Drohungen gegen seine Familie habe er Anrufe von deutschen Regierungsvertretern erhalten, die sich entschuldigt hätten, und israelische Journalisten hätten ihm geschrieben, sie würden sich für den Umgang in den israelischen Medien schämen. Nun scherzt Abraham: Er sei erleichtert, dass die Aufmerksamkeit zu Jonathan Glazer weitergezogen sei. Der jüdisch-britische Regisseur Glazer hat bei der Oscar-Verleihung vor knapp einer Woche für „The Zone of Interest“ die Auszeichnung für den besten internationalen Film erhalten. Den Preis hat Glazer gemeinsam mit den ebenfalls jüdischen Produzenten entgegengenommen und in seiner Dankesrede gesagt: "Wir stehen hier als Männer, die es anfechten, wenn ihr Jüdischsein und der Holocaust gekapert werden von einer Besatzung, welche für so viele unschuldige Menschen in einen Konflikt geführt hat. Ob es um die Opfer des 7. Oktober in Israel geht oder die der fortlaufenden Attacke auf Gaza, alle sind Opfer von Entmenschlichung, und die Frage ist: Wie widerstehen wir dieser?"
Wie Glazers Spielfilm – in dessen Zentrum Rudolf Höß, der einstige Kommandant des KZ Auschwitz, und dessen Familie steht – war auch die Doku „No Other Land“ lange vor dem 7. Oktober 2023 abgedreht. Doch beide hatten danach ihre Weltpremiere. Über den Erscheinungszeitpunkt, mitten im Gaza-Krieg, der durch die Terrorangriffe der Hamas auf israelische Orte ausgelöst wurde, hätten sich die Regisseure von „No Other Land“ natürlich Gedanken gemacht, sagt Yuval Abraham. Denn auch die Gemeinde von Masafer Yatta habe bei diesen Angriffen Freunde verloren, etwa den Friedensaktivisten Haim Katsman, der im Kibbutz Holit von den Terroristen ermordet wurde, als er eine Nachbarin schützte.
“Aber wir haben schon am 06. und am 05. Oktober und lange davor darüber gesprochen, dass dieses System der Ungerechtigkeit nicht nachhaltig ist und nicht aufrechterhalten werden kann”, so Abraham. Die Forderungen nach einer politischen Lösung des Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis seien bis zur jüngsten Eskalation weitestgehend ignoriert worden. Vielleicht sei genau jetzt der richtige Zeitpunkt, wirklich darüber zu sprechen.
Viele Bewohner der Region Masafer Yatta, die etwa zwanzig kleinen Gemeinden im südlichen Westjordanland umfasst, sind seit Jahrzehnten von Vertreibung bedroht. In den Achtzigerjahren wurden Teile des Gebiets von Israel zur Militärübungszone deklariert. In einem Dokument von 1981 ist festgehalten, dass der damalige israelische Landwirtschaftsminister und spätere Premierminister Ariel Scharon erklärte, eine Feuerzone könne erwirken, “dass diese so wichtigen Gebiete in unserer Hand bleiben“. Die palästinensischen Bewohner versuchten, sich mit juristischen Mitteln zu wehren. Schließlich leben sie schon seit Jahrhunderten als Olivenbauern und Schafhirten dort, ihre Dörfer sind in osmanischen und britischen Dokumenten beschrieben. Doch 2022 entschied Israels oberstes Gericht, dass die Räumung von acht Gemeinden mit etwa 1.800 Menschen in der sogenannten “Firing Zone 918” rechtens sei. Aber auch jene Dörfer, die nicht vom Gerichtsurteil bedroht sind und außerhalb der Feuerzone sind von Siedlergewalt bedroht. Auch deshalb wollen die Regisseure den Film jetzt zeigen, und nicht erst, wenn es für die Menschen schon zu spät ist.
“Wir haben keine juristischen Mittel, um uns zu wehren. Politischer Druck ist das einzige, was uns jetzt noch schützen kann”, sagt Basel Adra. “No Other Land” ist ein aktivistischer Film. Viele Aufnahmen, die darin zu sehen sind, sind lange vor der Idee entstanden, sie für einen Dokumentarfilm zu verwenden: Manche Szenen sind über 20 Jahre alt und wurden ursprünglich privat gemacht. Andere sind im Zuge einer Initiative der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem gedreht worden, die Kameras in palästinensischen Gebieten mit besonders hoher Siedlergewalt verteilte, um die Verbrechen zu dokumentieren. Denn, sagt Adra, die Stimmen von Palästinensern würden oft angezweifelt, deshalb brauche es Beweise.
Zur Filmvorführung haben die Regisseure in den Hof der Schule von at-Tuwani geladen, wo sich einige hunderte Bewohner versammeln. Einige Dutzend israelische Friedensaktivisten aus Tel Aviv und Jerusalem sind nach Masafer Yatta gekommen, weil sie die Bewohner mit ihrer Präsenz vor Siedlergewalt und militärischer Willkür schützen wollen. Auch die Schule ist ein Brennpunkt der Gewalt. Hierher kommen Kinder aus der ganzen Region. In Tuba, aus dem einige Schüler stammten, waren die Siedlerangriffe auf Kinder so drastisch, dass die israelische Besatzungsbehörde auf internationalen Druck Soldaten angeordnet hat die Kinder zur Schule in at-Tuwani zu begleiten, um sie zu schützen.
“Die größte Angst ist, dass wir auch heute angegriffen werden”, sagt Ariel, ein Friedensaktivist, der aus Tel Aviv angereist ist. Seit Jahren kommt er alle paar Wochen, um Olivenbauern und Schafhirten zu begleiten. Die nächste israelische Siedlung ist nur einige hunderte Meter von at-Tuwani entfernt. Mittlerweile leben dort doppelt so viele israelische Siedler als Palästinenser in at-Tuwani. Erst im November wurde Ariel beim Versuch, einen Angriff von Siedlern aus dem benachbarten Ma'on auf einen Garten im Dorf zu filmen, von den radikalen israelischen Siedlern mit scharfer Munition beschossen.
Als die Lichter ausgehen und der Film beginnt, schleichen sich Yuval Abraham und Basel Adra aus dem Publikum. Sie wollen vorbereitet sein, sollten Soldaten oder Siedler die Filmvorführung angreifen. Auf der Leinwand ertönt bald Adras Stimme, er spricht über seine erste Begegnung mit israelischen Soldaten, bei der er fünf Jahre alt gewesen sei, und über den Aktivismus seiner Eltern. 95 Minuten lang zeigt “No Other Land” den Alltag der Bewohner von Masafer Yatta, eingebettet in die Freundschaft zwischen dem 27-jährigen palästinensischen Aktivisten Basel Adra und dem 28-jährigen israelischen Journalisten Yuval Abraham.
Er folgt der Familie der 50-jährigen Farsi Umm Harun, einer Bewohnerin von Khirbet al-Rakiz, einem kleinen Ort in Masafer Yatta. Hastig trägt sie ihr weniges Hab und Gut aus ihrer bescheidenen Hütte und ruf ihrer Tochter Doha raus, als der Bulldozer auf ihr Heim zufährt. Das kleine Mädchen klammert sich an seine Mutter und weint. Und trotz der Brutalität kichert eine Gruppe von Kindern im Publikum, Doha sitzt an diesem Abend unter ihnen.
Wie Umm Haruns Haus werden seit 1999 regelmäßig Häuser und Zugangswege von Militär und Besatzungsbehörde demoliert. Die palästinensischen Gemeinden werden an der Entwicklung gehindert, während die völkerrechtswidrigen Siedlungen und Außenposten weiter wachsen, einige von ihnen in die Feuerzone hinein. In einer Aufnahme des Films zeigt sich dieser Kontrast besonders: Während das palästinensische Haus im Vordergrund innerhalb von Minuten in Schutt gelegt wird, sind im Hintergrund die großen, gepflegten Häuser der Siedler zu sehen.
Noch drastischer zeigt der Film die Ungleichheit der Leben von Yuval Abraham und Basel Adra. Letzterer hat an der Hebron University Jura studiert, doch im Westjordanland gibt es keine Arbeit für die Jugend. Seit er 19 Jahre alt ist, filmt er gewalttätige Übergriffe durch Siedler und durch Soldaten. Die erste hat er von B'Tselem bekommen als Teil eines Programms, Rechtsbrüche in der Region zu dokumentieren. Immer wieder wird er dafür verprügelt, seine Kameras werden konfisziert. Als sein Vater ohne Grund und ohne Anklage in Administrativhaft gesteckt wird, wird Adra depressiv und traut sich nicht mehr raus.
Wie weit die Ungerechtigkeit geht, zeigt der Fall von Umm Haruns Sohn Harun Abu Aram. Er wird beim Versuch, an einem Stromgenerator festzuhalten, von einem Soldaten aus nächster Nähe in den Hals geschossen. Auch das ist auf Film festgehalten. Die Armee sagte damals, sie “werde den Fall untersuchen”. Passiert ist seitdem nichts. Aber auch ruhige und optimistische Momente gibt es, wenn etwa die Bewohner mit einer List eine neue Schule bauen.
Im Abspann des Films ist schließlich noch eine letzte Szene eine Woche nach dem07. Oktober zu sehen, die manche vielleicht bereits aus den sozialen Medien kennen: Ein israelischer Siedler läuft auf einen unbewaffneten palästinensischen Mann, schubst ihn und schießt ihm aus nächster Nähe mit einem Sturmgewehr in den Bauch. Die Szene hat Basel Adra gefilmt, nun hört man auch die Tonspur dazu: Adra ruft die israelische Polizei an, berichtet ihr vom Angriff und bittet um Hilfe. Die Polizistin ignoriert ihn offenbar. Sein Cousin überlebt den Angriff. “Aber seit dem 07. Oktober ist die Realität noch viel schlimmer als das, was im Film zu sehen ist”, sagt Basel Adra. Nach Angaben vieler Menschenrechtsorganisationen ist Siedlergewalt so eskaliert, dass allein in Masafer Yatta sechs Gemeinden geflohen sind.
Siedler aus den angrenzenden Siedlungen haben die verlassenen Orte inzwischen fast vollständig zerstört. Im restlichen Westjordanland sieht es nicht viel besser aus. Umm Haruns Sohn ist inzwischen an seiner Schussverletzung gestorben. Auch sie saß an diesem Abend im Publikum. “Es war sehr emotional, diese Bilder zu sehen”, sagt sie. “Aber ich glaube, es ist gut, wenn die Welt sieht, welche Ungerechtigkeit uns widerfährt.” Nach der Filmvorführung bleiben etwa ein Dutzend israelischer Aktivisten in at-Tuwani. An diesem Abend sind die Siedler nicht gekommen, aber das könnte sich am nächsten Morgen schon ändern. Auf den Straßen im Westjordanland sind nachts israelische Autos und Siedlerbusse zu sehen. Palästinenser hingegen, so berichten viele hier, haben Angst, nachts auf der Straße von Siedlern angegriffen zu werden.
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Cover: No Other Land by Basel Adra, Hamdan, Ballal, Yuval Abraham, Rachel Szor, Palestine/Norway, 2024, 95’, video still.