Françoise Vergès neuestes Buch ist ein konsequenter Vorschlag für das dekolonisierende Programm des Museums als Topographie der Macht. María Inés Plaza Lazo erkennt bei der Lektüre, dass ihre Kritik auch für Museen für Zeitgenössische Kunst gilt. Ein Review.
Das Universalmuseum ist ein Kind der französischen Revolution: Eine humanistische Idee der Bildung, der Wissenschaft, der Schaffung eines neuen Bürgers (Cis-Männer, die von auf der Wiese liegenden Frauen betrachtet werden), in Gütern versammelter Schönheit, die nicht nur der Monarchie gehören soll, sondern auch dem Volk. Diese Idee der Bildung, sagt die dekolonial– feministische Theoretikerin und Antirassistin Françoise Verges, ist von der Idee der Restitution nicht zu trennen: von der Rückgabe der Güter, die durch Ausbeutung entstanden sind und nicht ohne der Arbeitsressourcen derer zu denken sind, die sie ermöglicht haben; und der Idee von Bildung als gewaltsamem Akt der Befreiung. Wer also das Museum nicht als (ideologisches, politisches und wirtschaftliches) Schlachtfeld sehen möchte, vertritt nicht die Seite der Gemeingüter, sondern die der Hegemonie.
Die Autorin von Un féminisme décolonial (2019) und Une théorie féministe de la violence (2020) sieht das westliche Modell von Museen (womit sie nicht nur ethnologische, historische oder anthropologische, sondern auch Museen für zeitgenössische Kunst und Kultur meint) als Platzhalter für Ideen von Wandel und Fortschritt, die aber noch in den Operationsmodi der bürgerlichen Aufklärung und des Kolonialismus gefangen sind. “So gut wie jeder will heute ‘das Museum überdenken’, doch nur wenige wagen es, die Voraussetzungen selbst zu hinterfragen”: So leitet Vergés ihr neues Buch ein. Sie verstrickt einen nicht unmittelbar in Argumentationen, sondern versammelt die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Momente, die uns erlauben, Dekolonisierung als Programm bedingungsloses Chaos zu erkennen, statt als nices Add-on zu etablierten institutionellen Strukturen. Vorschlag für einen neuen Hashtag: #propertytrouble.
Das Buch schlägt Verbindungen zwischen scheinbar disparaten, aber aufschlussreichen Assoziationen von Protesten gegen Gewalt und Rassismus weltweit und blinden Flecken in Museen beim Ausstellen und Einstellen von nicht-weißen Menschen. Dank dieser Verbindungen erhellt sich auf klarste Weise, dass jedes Museum, das heute auf der Welt gebaut wird, das westliche Modell übernimmt und weiterführt. Jede Vitrine, jeder Wandtext erlaubt es Museen, die Hegemonie des Objektes als Ware zu reproduzieren. Und jeder Versuch, sich davon zu befreien, ist gezwungen, mit dem westlichen Modell als Prämisse anzufangen. Vergès schreibt aber auch, dass Objekte von ihrer Fetischisierung befreit werden können, wenn die extrem wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Werte nicht mehr im Vordergrund stehen.
"Gewalt ist atmosphärisch", zitiert Vergès die afghanische Autorin Fatima Bhutto und bezieht sich auf den Alltag von Millionen von Menschen, die sich mit dieser fetischisierenden Tendenz der Museen und der seit Jahrhunderten fortgeführten Gewalt der Entfremdung von kolonisierten, schwarzen, indigenen, transgender, eingeschränkten Körpern und der immer nur einseitigen Einforderung von Risikobereitschaft. Chaos ermöglicht dagegen eine ständige Erkundung dessen, was Museen sein könnten; eine fortlaufende, vielstimmige Improvisation mit den Begriffen und Werkzeugen sozialer Koexistenz, wenn diese Begriffe diskutierbar werden, wenn es Raum zum Atmen gibt, wenn Millionen Leben in Knechtschaft einen Ort der Gemeinschaft erhalten. Chaos droht aus jeder Richtung und rennt in jede Richtung. Aber es wäre eine Praxis zu versuchen zu leben, solange wir zum Überleben verurteilt sind.
Museen, die sich als Garanten des Weltkulturerbes präsentieren, sind Hüter des Erbes der Kolonisierung und nicht der gesamten Menschheit. Wichtiger noch wäre vielleicht hier die Frage: Was ist mit Museen, die sich als Garanten der Dekolonisierung präsentieren, aber in ihrer Autorität Abhängigkeitsverhältnisse weitertragen? Françoise Vergès skizziert in ihrem neuen Buch einen radikalen Horizont: Die Dekolonisierung des Museums bedeutet die Umsetzung einer komplett neuen gesellschaftlichen Formation, sowie die Erfindung anderer Arten, die menschliche und nichtmenschliche Welt zu begreifen, welche die kollektive Kreativität fördern und den Menschen, die ihrer beraubt wurden, Gerechtigkeit und Würde verleihen. Vielleicht ist einer der wichtigsten Perspektivwechsel, den Françoise Vergès vornimmt, Objekte nicht als Eigentum und Privilegien zu verstehen, sondern als Gemeingut, das die Befreiung von Menschen als Voraussetzung wie als Ziel in sich trägt.
Françoise Vergès: “Programme de désordre absolu. Décoloniser le musée”. In französischer Sprache. La fabrique éditions. 259 Seiten, 15 Euro.
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Helina Metaferia, ‘Headdress 17’ From We’ve Been Here Before, 2022. Collaged paper. Courtesy of the artist.