Die Bedingungen, die die künstlerische Zusammenarbeit und das Überleben der Kulturschaffenden heute prägen, stehen in einem tiefgreifenden Widerspruch zueinander:
Einerseits ist das globale System der kapitalistischen Ausbeutung stärker und durchdringender denn je. Natürlich dominiert es die Weltwirtschaft, auch wenn sich diese heute in zunehmend kriegerischen regionalen und imperialistischen Blöcken zu reorganisieren scheint. Aber seine Wettbewerbs- und Akkumulationslogik durchdringt auch fast alle gesellschaftlichen Institutionen und prägt die Vorstellungen jede*r Einzelnen.
Auf der anderen Seite fällt die Kosmologie des Kapitalismus in sich zusammen. Oberflächlich betrachtet wird dieser Zusammenbruch durch die wachsende Enttäuschung, das Unbehagen und den Zynismus gegenüber den ideologischen Behauptungen der Verfechter des Kapitalismus nach 1989 sichtbar. Niemand glaubt heute noch ernsthaft, dass die "steigende Flut" des Wirtschaftswachstums "alle Boote heben" und zu allgemeinem Wohlstand für alle führen wird. Nur sehr wenige Menschen glauben, dass diejenigen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten, zum Erfolg verdammt sind oder auch nur die Chance dazu haben. Der Mythos, dass unendliches Wirtschaftswachstum auf einem endlichen Planeten möglich ist oder dass der Kapitalismus technologische Lösungen für seine ökologischen Krisen finden wird, klingt zunehmend absurd bis verzweifelt. Hier geschieht etwas, das über Zynismus hinausgeht. Es geht nicht nur darum, dass die ideologischen Geschichten, die einige Menschen zur Rechtfertigung des Kapitalismus erzählt haben, nicht mehr überzeugend sind. Die breitere Kosmologie – der Rahmen, den sie bot, um der Welt und unserem Platz in ihr einen Sinn zu geben – bricht auseinander.
Künstler*innen und Kulturschaffende hatten in der Kosmologie des Kapitalismus eine Rolle bzw. ein Spektrum von Rollen. Heute, da diese Kosmologie zerbröckelt, ist ihre Bedeutung im Wandel begriffen. Aber sie schaffen auch einen der wenigen legitimen Orte, an denen es uns erlaubt ist, kosmologisch zu denken, und zwar innerhalb unserer Kosmologie. Infolgedessen besteht eine der Bedingungen und Herausforderungen für Künstler*innen und Kulturschaffende heute darin, die Vorstellungskraft anzuregen für das, was kommen könnte, nachdem der Kapitalismus seine Kosmologie eingeholt hat und in sich selbst zusammenfällt. Während einige Künstler*innen und Kulturschaffende sich diesem Problem direkt zuwenden, behaupte ich, dass sich alle auf die eine oder andere Weise indirekt oder unbewusst damit auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung zeigt sich in der Art und Weise, wie sie sich organisieren, zusammenarbeiten und kollektivieren.
Das kann aufregend sein, aber zu welchem Zweck?
Amol K Patil, Black Mask on Roller Skates, 2022, performance im Rahmen der documenta fifteen, Rainer-Dierichs-Platz, Kassel, June 19, 2022, Photo: Frank Sperling
Das Ende einer Kosmologie
Wenn ich den Begriff Kosmologie verwende, denke ich nicht nur an die besonderen Geschichten und Mythen, die wir uns über das System erzählen, in dem wir leben. Ich meine die übergreifende Vorstellung einer Totalität, den Sinn des Kosmos, innerhalb dessen diese Mythen und Erzählungen einen Sinn ergeben. Eine Kosmologie ist ein gemeinsamer Sinn für den Kontext, der eine Landkarte einer Gesamtheit bietet, von der wir alle ein Teil sind, und der es uns ermöglicht, die plausiblen Ergebnisse unserer Handlungen innerhalb dieser Gesamtheit vorherzusagen. Es handelt sich nicht nur um einen Mythos, sondern um eine Art Meta-Mythenlandschaft, nicht um eine einzelne Ideologie, sondern um die ideologische Gestalt, innerhalb derer bestimmte Ideologien einen Sinn ergeben. In der Kosmologie des Kapitalismus haben wir gelernt, die Welt als die Domäne individuierter wirtschaftlicher Akteur*innen zu sehen, die wie atomare Teilchen oder sich in Bewegung befindliche Objekte im endlichen Raum interagieren. Dies ist keine Kosmologie komplexer Gegenseitigkeit und Fürsorge, sondern eine Kosmologie von Gewalt und Zwang.
Es handelt sich um eine Newtonsche Weltsicht, die nach Bichler und Nitzan parallel zur Säkularisierung der "westlichen" Gesellschaft entstanden ist, mit ihrer Umwälzung der mittelalterlichen Kosmologie und der Ersetzung eines allmächtigen Gottes durch die Figur des allmächtigen Individuums. Diese Kosmologie sei entstanden, um ein schmeichelhaftes Abbild und eine Rechtfertigung für die Herrschaft des bürgerlichen, wettbewerbsorientierten, patriarchalischen kapitalistischen Individuums zu bieten. Es stellte sich selbst nicht nur in den Mittelpunkt der Menschheitsgeschichte, sondern auch in den Mittelpunkt des sprichwörtlichen Kosmos, der nicht nur als Vorlage für alles menschliche Verhalten diente, sondern durch den auch die Gesetze des Universums vorstellbar wurden.
Es ist nicht nur so, dass die jüngsten Entwicklungen in der Quantenphysik diese narzisstische Kosmologie unsicher gemacht haben. Wie Sylvia Wynter argumentiert, haben die planetarischen Kämpfe gegen Kolonialismus und Rassismus, die in den 1950er und 60er Jahren ihren Höhepunkt erreichten und noch immer in der ganzen Welt nachhallen, auch den Anspruch auf Universalität dessen in Frage gestellt, was in Wirklichkeit nur ein bestimmtes "Genre" des Menschseins ist. Diese hegemoniale Gattung des homo oeconomicus, des hyperrationalen, wettbewerbsorientierten Subjekts, ist in der Tat das besondere Herrschaftsideal, das im Rahmen von fünf Jahrhunderten Imperialismus, Kolonialismus und Kapitalismus geschaffen wurde und dazu beiträgt, diese zu reproduzieren. Es ist um eine Kosmogonie, eine Ursprungsgeschichte, herum organisiert, die Darwins Evolutionstheorien verdreht, um darauf zu bestehen, dass diese globale kapitalistische Ordnung der Ungleichheit, der Unterdrückung, der Ausbeutung und der Nekropolitik natürlich, normal und notwendig sei, dass sie so sein müsse, dass die Vergangenheit unweigerlich oder durch Vorsehung zur Gegenwart geführt habe und dass alle anderen Völker, alle anderen Welten, alle anderen Kosmologien nichts anderes seien als das, was sie sind.
Die Künstler*in und der Kult
Das globale kapitalistische Imperium ist im Niedergang begriffen, auch wenn dieser Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern kann. Er könnte die Ökosysteme der Welt mit sich reißen oder durch etwas noch Schlimmeres ersetzt werden. Als die Sonne langsam über dem Römischen Reich unterging (ein Prozess, der Jahrhunderte dauerte), begannen Kulte und "Mysteriengesellschaften" wie Unkraut in den Ruinen der Kosmologie des Reiches zu sprießen. Diese Riten, die nicht nur alte Götter durch neue ersetzten, sondern auch mit neuen Organisationsformen, neuen Wertehierarchien und neuen Rhythmen der Verehrung experimentierten, wurden zumeist von denjenigen praktiziert, die gewohnheitsmäßig oder rechtlich vom Zugang zur Macht oder zur sozialen Mobilität innerhalb des Reiches ausgeschlossen waren.
Zur Zeit des Niedergangs Roms gab es natürlich keine Künstler*innen als solche. Bildhauer*innen, Dichter*innen und andere, die wir heute mit diesem Begriff assoziieren würden, waren wichtige Mitglieder der Gesellschaft, aber die Vorstellung eines individuellen kreativen Genies, dessen Aufgabe es ist, "neue" symbolische Objekte für den Konsum zu produzieren, existierte nicht. Erst mit dem Aufkommen des Kapitalismus erschien die Figur der Künstler*in als verherrlichtes Ideal des homo oeconomicus, einer wagemutigen Risikoträger*in, einer wettbewerbsorientierten Individualist*in, die aus dem Chaos Ordnung schafft. Doch mit der langsamen Implosion der kapitalistischen Kosmologie verblasst der Heiligenschein, der auf die Figur des einzigartigen künstlerischen Genies projiziert wird.
Die Aura des Genies ist zwar nach wie vor das, was den Wert von Kunstgütern erhöht und die meisten Kunstkonsument*innen anlockt, doch die Künstler*innen und Kulturschaffenden selbst sind zunehmend skeptisch. Zum Teil hat dies mit dem Aufkommen neuer Generationen von Kunstschaffenden zu tun, die mit feministischen, queeren, antikapitalistischen, antirassistischen und antikolonialen Kritiken an dieser Aura aufgewachsen sind. Zum Teil hat es mit dem Überleben zu tun: In einem Kunst- und Kulturmarkt, in dem die große Mehrheit der Beschäftigten dazu bestimmt ist, eine obskure und prekäre "dunkle Materie" zu bleiben, damit einige wenige Stars glänzen können, macht es auf verschiedene Weisen Sinn, das Streben nach dem Starstatus aufzugeben und sich zu neuen kooperativen Konfigurationen zusammenzuschließen. Wie dem auch sei, das Kollektiv ist heute ein wichtiger Protagonist in der Welt der Kunst und Kultur.
Ich schlage vor, dass wir uns die entstehenden kollektiven Konfigurationen von Künstler*innen und Kulturschaffenden nicht nur als Räume vorstellen können und sollten, geschaffen von ihren Protagonist*innen, um Ressourcen zu bündeln, Möglichkeiten neu zu verteilen und auf neue Weise zusammenzuarbeiten. Sie sind, denke ich, auch dann, wenn sie es nicht beabsichtigen, Räume für kosmologische Experimente. Sie sind, oft trotz ihrer selbst, Räume der alternativen Welterzeugung.
Die documenta 15 und die Rache des Ancien Régime
Der Aufstieg des Kollektivs wurde auf der Weltbühne durch die documenta 15 tiefgreifend geprägt, dank ihrer visionären künstlerischen Leitung durch das indonesische Kollektiv Ruangrupa. Auf seine Einladung hin kamen bis zu 1.500 Künstler*innen, die meisten von ihnen aus rassistisch geprägten oder aus dem globalen Süden stammenden Kontexten, in verschiedenen amorphen Konfigurationen nach Kassel. Einige gehörten zu langjährigen Kollektiven. Andere Kollektive waren jüngeren Datums, aber alle stellten mikrokosmische Experimente in der Frage dar, was es bedeuten könnte, den triumphalen Heroismus der einzelnen Künstler*in zu überwinden und eine Form von Kooperation und Ko-Abhängigkeit anzunehmen. Ruangrupas Konzept des Lumbung, des gemeinschaftlichen Reisschuppens, war eine Antwort des Globalen Südens auf westliche Vorstellungen von Allmende, die, wie Mao Mollona zeigt, das radikale Kunstschaffen mit der Vorstellung eines gemeinsamen Territoriums der Fürsorge und Unterstützung belebt hat.
Dieser dezidiert antikapitalistische und antikoloniale Ansatz überschritt die Grenzen dessen, was seit 1955 einer der weltweit bedeutendsten Tempel für die Figur des künstlerischen Genies war. Er kollidierte mit der etablierten Kulturverwaltung und dem documenta-Personal und brachte die Erwartungen der politischen Elite Deutschlands, der Kunstwelt und der Besucher*innen des 100-tägigen Festivals empfindlich durcheinander. Für ihre Ketzereien konnte Ruangrupa nie vergeben werden. Die Skandale, die das Festival plagen, tragen den schwefligen Geruch von Rache.
Bereits vor Beginn des Festivals wurde die Bühne bereitet für eine Reihe von böswilligen Gerüchten und absurden Anschuldigungen gegen palästinensische Künstler*innen. Als bei der Eröffnung zwei kleine Bilder (von Tausenden) auf einem Wandbild erschienen, die im deutschen Kontext als antisemitisch ausgelegt werden könnten, öffneten sich die Pforten zur Hölle. Die Bilder und das dazugehörige Kunstwerk wurden umgehend und zu Recht entfernt. Unabhängig von der Absicht hätten die Bilder nicht in Deutschland gezeigt werden dürfen. Die Entschuldigung der Künstler*innen und der Kurator*innen sollte als starkes Beispiel dafür betrachtet werden, wie man Reue für einen symbolischen Schaden ausdrücken und gleichzeitig einen fruchtbaren Raum für kritische Gespräche eröffnen kann. Doch das war nicht genug, der Skandal geriet außer Kontrolle.
Taring Padi, 2022, Bara Solidaritas: Sekarang Mereka, Besok Kita /The Flame of Solidarity: First they came for them, then they came for us, Installationsansicht, Hallenbad Ost, Kassel, June 14, 2022, photo: Frank Sperling
Eine ehrliche forensische Untersuchung der Art und Weise, wie Deutschlands politische Parteien und Medien sowie andere zynische Akteur*innen den Skandal geschürt und ausgenutzt haben, ist dringend erforderlich, wird aber nie stattfinden. Sie müsste eine sorgfältige Aufarbeitung schwieriger Wahrheiten beinhalten. Dazu gehört die Art und Weise, wie Deutschlands einzigartige und entsetzliche Geschichte des Antisemitismus (dem auch meine Familie zum Opfer fiel) und die damit verbundene öffentliche Erinnerung so belastet sind, dass sie genau die Art von erwachsenem Gespräch über „Rasse“ und Kultur verhindern, die sie erfordern. Dazu könnte eine Abrechnung mit Deutschlands bedauerlichen und rassistischen Angriffen auf die freie Meinungsäußerung in Bezug auf die palästinensischen Menschenrechte und seine krypto-autoritäre schwarze Liste derjenigen gehören, die sich zu diesem Thema äußern. Sie könnte sich mit dem Fortbestehen einer weitgehend unhinterfragten und uneingestandenen weißen Vorherrschaft in der gesamten deutschen Gesellschaft auseinandersetzen, die zum Beispiel nichts Falsches darin sieht, wenn die ausschließlich weißen politischen Eliten nach Kassel kommen, um die überwiegend nicht-weißen und aus dem globalen Süden stammenden Künstler*innen und Kuratoren der documenta 15 wegen Rassismus zu beschimpfen, als ob erstere irgendetwas zu diesem Thema zu sagen hätten und als ob letztere ungezogene Kinder wären, die eine Party schmeißen, während die Erwachsenen in der Oper sind.
Dazu könnte auch gehören, auf die Widersprüche hinzuweisen, die darin bestehen, dass die nationale Elite eine Phobie gegen jegliche Bilder hat, die an Antisemitismus erinnern, während sie gleichzeitig entmenschlichende Darstellungen des Islams und Schwarzer Menschen in der Kunst und Populärkultur toleriert, verteidigt und sogar als demokratische Tugend feiert.
Antisemitismus ist real und gefährlich, wie der Autor, der zu seinen Zielen gehört, nur zu gut weiß. Aber der Angriff auf die documenta 15 hatte wenig damit zu tun. Zumindest teilweise wurde dieser Angriff durch eine rückwärtsgewandte Abneigung gegen Ruangrupa und ihre Freund*innen beschleunigt und angeheizt, die die Figur der Künstler*in als solche ikonoklastisch auf den Kopf stellten. Man konnte ihnen nicht verzeihen, dass sie darauf bestanden, dass diese documenta im Geiste der Würdigung des "Zeitgenössischen" der Schaffung dauerhafter Verbindungen zwischen rassifizierten, radikalen und aus dem globalen Süden stammenden Künstler*innen und Kollektiven Vorrang vor der Befriedigung des europäischen Blicks geben würde. Ob die Kurator*innen und ihre Mitstreiter*innen ihr Ziel erreicht haben, ist eine andere Frage; das wird nur die Zeit zeigen. (Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels gibt es viele Gerüchte, Kontroversen, Unstimmigkeiten und Unklarheiten über den Prozess, das Vergütungssystem, die Unterbringung und vieles mehr). Aber es war das Ziel selbst, das die Hohepriester*innen des Ancien Régime erzürnte, die darauf bestehen, dass sie die Verteidiger*innen der Zivilisation sind, deren mörderische Kosmologie jedoch im Sterben liegt.
Tatsächlich hat die verleumderische, fast wahnsinnige Lautstärke, mit der das Ancien Régime und seine Verbündeten die documenta 15 angriffen, viel mit dem reaktionären Eifer gemein, mit dem das römische Imperium zu verschiedenen Zeiten versuchte, die innere Implosion durch die Verfolgung derjenigen abzuwenden, die von seiner Kosmologie abwichen. In diesem Sinne haben die Angriffe auf die documenta 15, auch wenn sie versuchen, eine Rhetorik des Antirassismus und des Pluralismus zu monopolisieren, viel mit der rechtsextremen und postfaschistischen Welle gemeinsam, die die Welt zu überrollen droht.
Auch diese reaktionären Kräfte mobilisieren sich um die angeschlagenen Ikonen und entzauberten Fetische der alten Kosmologie: patriarchalische Geschlechterordnungen, Ethno-Nationalismus, Wettbewerbsindividualismus. Die Rechtsextremen befinden sich in einer schlechten Beziehung zu ihren Konkurrenten um die Vorherrschaft innerhalb der politischen Machenschaften des Kapitalismus: den liberaleren und "zentristischen" Fraktionen der Eliten. Im Gegenzug blicken diese "Zentristen" (die nach vernünftigen Maßstäben reaktionär sind) sehnsüchtig auf die Diskurse derer, die lange Zeit an den Rand gedrängt wurden, um ihr Glück wiederzubeleben, indem sie die Rhetorik der sozialen Gerechtigkeit nachplappern, um ihre zunehmend unglaubwürdigen Positionen zu stützen. Die revanchistische Rechte und die revanchistische Mitte, die darauf bestehen, einander Feinde zu sein, finden in der Tat gemeinsame Sache in Episoden wie dem Skandal der documenta 15.
NhàSàn Collective, Tuấn Mami, Vietnamese Picnic bei der documenta fifteen, Kassel, June 19, 2022, Photo: Victoria Tomaschko
Kollektive Visionen am Ende der Welten
Wie David Graeber in seinen Überlegungen zu den Bewegungen feststellte, die die Occupy-Aufstände und die Squares-Bewegungen inspirierten bzw. sich in ihrem Gefolge bildeten, sind die besonderen politischen Forderungen vieler radikaler Protagonist*innen von heute weniger bedeutsam als die Tatsache, dass sie sich versammeln: Ihre Politik ist die Art und Weise, wie sie mit neuen Formen der sozialen Organisation und Kooperation experimentieren und diese umsetzen. Dies gilt auch für den Aufstieg des Kollektivs als Format der "politischen" Kunst in unserer Zeit.
Sie sind, wie Stevphen Shukaitis anmerkt, fantasievolle Unternehmungen zur Reorganisation des sozialen Lebens, die, auch wenn sie schnell und ohne messbare unmittelbare Auswirkungen verglühen, mit einer Art historischer Spukwirkung in der Ferne ihre Schwingungen in Jahren oder Jahrzehnten durch Prozesse spürbar machen können, die wir noch kaum verstehen. Wie meine Metaphern hier andeuten, sehe ich diese Kollektive auch als Experimentierfeld für parallele Kosmologien. Es stimmt, dass einige Kollektive lediglich merkantile und zweckdienliche Mechanismen darstellen, mit denen Künstler*innen und Kulturschaffende Ressourcen bündeln, Risiken streuen und auf andere Weise ein stellvertretendes Unternehmen oder eine Familie schaffen können. Aber in den meisten Fällen sind sie Laboratorien für die Pluralisierung der Möglichkeiten, wie wir wieder menschlich werden können, d. h. wie wir kooperieren und unsere Kooperation auf uns selbst zurückwerfen, damit wir uns verändern können, wie Wynter lehrt.
Das Ancien Régime der alten, im Verfall begriffenen kapitalistischen Kosmologie besteht darauf, dass es nur eine wirkliche Art und Weise des Menschseins gibt, dass alle Kooperation ein verkappter Wettbewerb ist, dass alle Verwandtschaft patriarchalisch ist und dass alle Menschen weiße Männer werden wollen. Der Drang zur Kollektivität, der Künstler*innen und Kulturschaffende heute so sehr antreibt, widersetzt sich dieser Kosmologie und erfindet neue. Aber mit welchen Mitteln und zu welchen Zwecken?
Von Januar bis Juli 2022 lebte ich in einem noch unbenannten und weitgehend unvollendeten Programm in der Nähe des Berliner Treptower Parks in einer alten Badewannenfabrik, die in Wohnungen und Werkstätten umgewandelt wurde und den Namen Moos trägt (nach der Straße, in der sie sich befindet: Moosdorfstraße) Ich schloss mich dem Experiment an und bot an, meine Erfahrungen als Community-Organisator und Theoretiker der Commons einzubringen. Ich wollte mich in einen Kontext begeben, den ich nicht verstand, eine Art soziologische Feldforschung. Ich wollte etwas von der Art und Weise verstehen, wie Menschen, die jünger sind als ich (ich bin 1981 geboren), nach der Pandemie Hoffnung in der Welt fanden. Ich war gleichzeitig fasziniert und abgestoßen von der Art und Weise, wie dieser Ort experimentelle Künstler*innen, alternative Heilpraktiker*innen, Kryptowährungs-Evangelist*innen, Sozialaktivist*innen, New-Age-Spiritualisten, privilegierte Nomad*innen und andere unter einem Dach vereinte. Wie passte das zusammen? Für mich war der Raum durch eine ideologische Dissonanz gekennzeichnet, aber ich war neugierig darauf, was er über die kosmologischen Verschiebungen aussagen könnte, die auf einer breiteren Ebene stattfinden, und über die Art und Weise, wie sich kreative Menschen in diesem Moment Kollektivität vorstellen und praktizieren.
Cinema Caravan + Takashi Kuribayashi, Outside of Mosquito Net (Out of the Loop), 2022, screening bei der Documenta fifteen, Karlswiese, Kassel, June 19, 2022, photo: Nils Klinger
Abgesehen von den Fragen der Vision und der Organisation, die das Residenzprogramm von Anfang an plagten, habe ich gelernt, dass die rasche Auflösung und Neuzusammensetzung dessen, was wir einst als "Subkulturen" bezeichneten, für eine aufstrebende Generation nicht nur normal ist, sondern gefeiert wird. Vielleicht hat das etwas mit der Leichtigkeit zu tun, mit der eine Generation, die mit sozialen Medien aufgewachsen ist, zwischen kulturellen Räumen und Idiomen hin- und herwechseln kann. Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass der Kapitalismus selbst das soziale Leben ständig in Brand setzt und neu synthetisiert. Was mich jedoch zutiefst beeindruckt hat, ist die Fluidität, mit der sich Kollektive bilden und auflösen, und wie in jedem Fall das gemeinsame Arbeiten und Leben neue, synthetische Kosmologien hervorbringt und sich um diese herum organisiert. Vielen in diesem Raum erschien es plausibel, sich vorzustellen, dass DeFi und Web3 genutzt werden könnten, um die Menschheit auf eine höhere Bewusstseinsebene zu heben, dass experimentelle Musik generationenübergreifende Traumata heilen könnte, dass psychoaktive Substanzen uns helfen könnten, eine revolutionäre neue Beziehung zur übermenschlichen Welt zu entwickeln, dass Polyamorie die Klimagerechtigkeit fördern könnte. Viele jüngere Teilnehmer*innen spürten sowohl die Gegenwart als auch die Verlassenheit ihrer Vorfahren. Sie waren sowohl post-hoffnungsvoll als auch post-zynisch. Ja, bis zu einem gewissen Grad spiegelt dieser optimistische Glaube eine Art jugendlichen Überschwang in einem "post-pandemischen'' Moment wider. Aber meine Neugier richtet sich auf das umfassendere Paradigma, für das ein solches (in meinen Augen überschwängliches) Denken ein Symptom ist. Natürlich könnte man jede einzelne dieser Positionen erfolgreich kritisieren, aber das war und ist nicht mein Ziel. Ich bin neugierig auf das Paradigma, in dem sie Wurzeln schlagen, wachsen und sich gegenseitig befruchten.
In dem Maße, in dem die kapitalistische Kosmologie zerbröckelt, vermehren sich neue Kulte und Mysterien mit amorphen Grenzen und ungewisser Dauer. Während wir alle die tiefe Dissonanz zwischen der anhaltenden und sich vertiefenden Macht des Kapitalismus und dem Zusammenbruch seiner Glaubensstrukturen erleben, ja sogar den Zusammenbruch der Art und Weise, wie er die Welt und den Kosmos erklärt, greifen wir alle, in jedem Alter, nach den Fragmenten und versuchen auf mehr oder weniger kohärente Weise, einen Sinn für die Gesamtheit, in der wir leben, und unseren Platz darin wieder zusammenzusetzen.
Nicht nur unsere Überzeugungen über die Wirtschaft und unseren Platz in ihr verändern sich, sondern auch unser grundlegendes Verständnis davon, wie die Welt funktioniert. Spiritualität und Wissenschaft verschmelzen, das Persönliche und das Politische fallen ineinander. Technologie und Gesellschaft verschwimmen. Die Grenzen zwischen Physik und Emotionen verschwimmen. Für einen Menschen meines Alters, der sich noch an einen Moment erinnert, in dem sich die kapitalistische Kosmologie mehr oder weniger kohärent anfühlte, ist dies eine melancholische, verwirrende und oft ärgerliche Aufgabe. Für viele jüngere Genoss*innen ist diese Art von nicht enden wollendem Pasticcio, das ständige Kombinieren und Rekombinieren von kosmologischen Fragmenten zu einer Bricolage, die einzige Normalität, die sie je gekannt haben. Die (Neu-)Zusammenstellung von Kosmologien ist für niemanden von uns eine rein oder auch nur primär bewusste kognitive Übung: Sie ist grundlegend sozial, eine gemeinsame Arbeit, die aus Interaktionen und Beziehungen hervorgeht. Daher sollte es uns nicht überraschen, dass "das Kollektiv" in diesem Moment als paradigmatisches Format der sozialen Organisation auftaucht. Das Kollektiv ist nicht so sehr eine bestimmte Struktur: Es kann schließlich klein oder groß, offen oder geschlossen, demokratisch oder autoritär sein. Das Kollektiv bezeichnet das Bestreben, sich zusammenzuschließen, um die Welt neu zu gestalten.
Atis Rezistans | Ghetto Biennale, Ghetto Gucci, Performance bei der documenta fifteen, St. Kunigundis, Kassel, June17, 2022,photo: Frank Sperling
Eine Vorhersage und eine Frage
In der Zukunft, die auch schon da ist, werden alle Menschen, Künstler*innen und alle Künstler*innen Kollektiven organisiert sein (vielleicht in mehreren widersprüchlichen Kollektiven). Diese Kollektive werden Kult-ähnliche Räume darstellen, Laboratorien für neue und wiederauflebende Kosmologien, die nicht nur durch den Diskurs, sondern vielmehr durch die experimentelle Beziehung zwischen Menschen entstehen.
Während das Imperium langsam zerbröckelt, werden eine Million Quasi-Systeme der Sinngebung und Welterzeugung genau in den Räumen wuchern, die der Kapitalismus für "Kunst" oder "Kultur" vorbereitet und kultiviert hat. Das liegt nicht nur daran, dass dies einer der letzten Orte ist, an dem man Finanzmittel erhält, um verrückte Dinge zu tun. Es liegt auch daran, dass diese Räume für kosmologische Ketzerei und Experimente seltsam zugänglich sind. In der Zukunft, die auch schon da ist, wird alle Kunst rituell und alle kulturellen Räume werden Altäre sein, oft gegen ihre eigene Natur. Wem werden die Opfer dargebracht?
Für einige wird diese Ausbreitung von Kulten erfreulich, bejahend und generativ sein, vor allem für diejenigen, die aufgrund ihrer rassischen, geschlechtlichen oder sexuellen Positionierung dem homo oeconomicus untergeordnet sind. Für andere wird sich diese Zukunft zutiefst verwirrend, entfremdend und schwindelerregend anfühlen. Viele werden sich in die Gewissheiten der alten Kosmologie flüchten und sich dem revanchistischen Rumpf des Ancien Régime anschließen. Neue kultische Faschismen sind bereits im Entstehen begriffen.
Aber die Vorstellung, dass alle diese Formationen reaktionär, regressiv oder fehlgeleitet sein werden, wäre falsch. Das Kollektiv entwickelt sich zum zentralen Idiom des radikalen Kulturschaffens, weil es Laboratorien für neue, postkapitalistische Imaginationen und Beziehungsformen bietet.
Die Frage, die sich hinter all dem verbirgt, ist erschreckend: Gibt es eine Möglichkeit, dass solche Kollektive gemeinsame Sache machen, um die materiellen Machtstrukturen und die festgefahrenen Eliten des kapitalistischen Imperiums zu Fall zu bringen, bevor diese die Welt zerstören, von der alle abhängen?
Wir hätten uns nie vorstellen dürfen, dass es die Aufgabe der Kunst sei, die Welt zu verändern. Aber ist es die Aufgabe des Kollektivs? Und ist es gut genug, eine neue Welt aus den Fragmenten der alten zu schaffen? In dem Maße, wie seine Kosmologie zusammenbricht, scheint der Kapitalismus immer mehr Raum und Zeit für kollektive Freiheit und immer weniger Raum für kollektive transformative Kraft zu bieten. Wie kann diese Freiheit mächtig werden?
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This piece was originally published by GameChanger, a platform to explore the futures of cultural & artistic work and collaboration in Berlin. Please visit GameChanger for the text in its original version, in English language.
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Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR), Ezequiel Suárez and Sandra Ceballos, Espacio Aglutinador, Documentation of 27 years of exhibition at Espacio Aglutinador (‚Chago‘ Armada and his wife), 2022, installation view (detail), documenta Halle, Kassel, June 12, 2022, photo: Nicolas Wefers