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DER AUFWAND, DIE RICHTIGE POSITION ZU FINDEN

Notes on cities: Istanbul.

  • Review
  • Nov 04 2022
  • Ira Konyukhova
    Ira Konyukhova is an artist and founder of the online magazine TransitoryWhite.

Mitten im Hasköy Viertel in Istanbul, über dem Goldenen Horn, stehen wir auf dem Dach eines Mehrfamilienhauses. Von hier gleicht der Blick auf Istanbul einem Postkarten Panorama, viele Sehenswürdigkeiten streifen durch das Bild. Es ist der Blick vom Dach des Ateliers der Künstlerin Inci Eviner, den sie in ihrer Videoarbeit „Reenactment of Heaven“ (2018) zeigt. Die Kamera dreht sich um ihre Achse, Tag und Nacht wechseln sich ab, Figuren, Zeichnungen und Zeichen erscheinen für einen kurzen Moment in einem ansonsten friedlichen Stadtblick. Unterhalb dieses Daches aber, unter dem Boden, oder, wie Inci sagt, in unserem Unterbewusstsein, getrennt durch eine Linie aus wurmartig kriechenden Figuren, findet ein Bacchanal statt. Es könnte ein Club sein, in dem Figuren, allesamt Frauen, in Leder, Stöckelschuhen und Masken, einen individuellen Tanz performen. Die Bewegungen der Figuren sind ungezogen, solche, die man im öffentlichen Raum sich als Mensch nicht trauen würde auszuführen. Ein Hund, dagegen, würde sich und seine Bedürfnisse nie hinterfragen, sie sind für ihn so selbstverständlich, dass sie nicht sexualisiert verstanden werden können. Wir sehen eine Frau, die wie eine Schlange sich bewegt, eine, die ihre Beine hochhebt, eine, die sich rollt, begleitet von zahlreichen anderen Figuren. Es sind unbequeme Körperpositionen. Oft mit dem Kopf nach unten, als unwichtiges Körperteil gebeugt, übernehmen die Beine und Bauch die führende Rolle. Natürlich haben viele Bewegungen und Positionen der Figuren etwas insgeheim sexuelles, diese Sexualität hat aber etwas Unschuldiges, eben Unbewusstes, wie bei einem Tier, das den Trieb nicht als Liebe und Ausdruck begreifen mag. Für Inci Eviner ist die Angepasstheit einer Frau, ihre Bereitschaft, ihren Körper den Gesellschaftsnormen unterzuordnen, ein wiederkehrendes Sujet. In Ihrer archäologischen Phantasiewelt kreiert die Künstlerin die Atmosphäre der Freizügigkeit und ein Ineinanderwachsen von Tieren, Menschen und Objekten.

fig.1

Der Titel der Ausstellung „Houris and Travelers“ verweist auf die feministischen Fragestellungen der in der Türkei geborenen und arbeitenden Künstlerin. Huri sind Paradiesjungfrauen, die die Gattinnen der wahrhaft Gläubigen im Paradies sein werden. Es sind wunderschöne Frauen, die aber nicht ihre Schönheit selbst genießen können, sondern dafür da sind, den anderen zu dienen. Alleine gelassen, also ohne die Gläubigen, geraten sie in eine Unterwelt, in der sie endlich ihren Körper zum ersten Mal spueren und sexuelle Handlungen für sich, nicht für einen Anderen, ausführen. Enthemmt, verlieren sie ihre Jungfräulichkeit, aber auch ihre Identität als Frau - sie verlieren sogar ihre Identität als Mensch und werden zu Halbwesen. Sie kriechen, machen Hysterie und werfen alles über den Kopf in einer männerlosen Hölle.

fig. 2

Beim Verlassen der Ausstellung wird man diskret in eine weitere Unterwelt geführt: Die bildliche Trennung des Horizonts im Video erinnert unweigerlich an die vielen Einschnitte im Stadtraum, wo neue, luxuriöse Bauten in keinem größeren Gegensatz zur alten Umgebung stehen könnten. Die fortlaufende Gentrifizierung der letzten Jahre traf auf eine extreme Inflation, welche den Körpern der ärmeren Bewohner*innen erhöhten Leistungszwang und stetige Beweglichkeit aufzwingt. Diese Körper, ihre Positionen und Bewegungen im Raum Istanbuls sind keineswegs frei gewählt, sondern tanzen viel mehr das Lied des Überlebens, das aus der Ferne idyllisch wirkt.

fig.3

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  • IMAGE CREDITS
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    Cover: İNCİ EVİNER, Video still, Reenacment of Heaven / Cenneti Sahnelemek, 2018.
    fig. 1, fig. 3: İNCİ EVİNER (1956), Travelers 1, 2022.
    fig. 2: İNCİ EVİNER (1956), Hey birdie, what's Modern? / Modern nedir kuşum?, 2022.

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