Ich verkaufe Arts of the Working Class seit ungefähr einem Jahr. Früher habe ich Motz und Strassenfeger verkauft, dann ganz viele Jahre gar nichts, weil ich wieder in Vollzeit beschäftigt war. Ich bin Krankenschwester und habe jahrelang erst im OP und anschließend auf der Intensivstation gearbeitet. Letztes Jahr fiel ich in einen Burnout. Man bekommt als Krankgeschriebene natürlich nicht mehr das Gehalt, das man vorher hatte – mit Überstunden und vielem mehr. Also habe ich überlegt, was mache ich? Mein Kind sollte auf keinen Fall darunter leiden, dass ich momentan wenig verdiene. Da ich recht nah an der Abholstation der Zeitung wohne und oft an ihr vorbeikam, dachte ich: Vielleicht sollte ich das wieder machen. So fing ich wieder mit dem Zeitungsvertrieb an und ich verkaufe auf der U-Bahn Linie 2. In der U-Bahn bin ich nicht auf Drogen und trinke keinen Alkohol, weil ich diesen Verdienst wirklich brauche. Und der ist echt Wahnsinn: In der Stunde kommen zwischen 30 und 50 Euro zusammen. Wenn ich die Zeitung nicht hätte, wäre es finanziell für mich katastrophal gewesen.
Ich verkaufe gerne auf der U2. Auf der U6, von Wedding bis Friedrichstraße, trifft man bis zu sechs Verkäufer*innen. Und auf U2 sind höchstens zwei weitere – und die sind da seit Jahren. Jemand, der wirklich obdachlos ist, und dem es überhaupt nicht gut geht, verdient oft gar nichts. Die Menschen geben den Verkäufer*innen, die am dringendsten Geld brauchen, nichts. Sie brauchen meistens zehn Euro, damit sie ihre Drogen kaufen können. Um das zu verdienen, brauchen sie oft zwei bis drei Stunden. Durch AWC kann ich meinem Kind eine vernünftige Ernährung ermöglichen. Mit dem, was ich gerade an Sozialleistungen erhalte, könnte ich mir das nicht erlauben. Wir alle wissen, wie teuer Lebensmittel geworden sind.
Man muss jedoch fit auf den Beinen sein. Jemand im Rollstuhl könnte es nicht genauso machen, sondern könnte nur in barrierefreien U-Bahnen verkaufen. Mir fällt selbst auf: Wenn ich schlecht drauf bin, verdiene ich wesentlich weniger, als wenn ich gute Laune habe. Das merken die Menschen. Es ist total faszinierend, was ein Lächeln ausmacht.
Nächstes Jahr im Frühjahr möchte ich wieder mit 15 Stunden anfangen zu arbeiten, vielleicht auch in einem Pflegeheim. Mehr als 30 Stunden die Woche will ich nicht mehr machen. Der Burnout war eine ganz schlimme Erfahrung und dahin will ich nicht zurück.
Aber erstmal muss ich meine Probleme in den Griff bekommen. Gerne möchte ich auch eine Mutter- Kind-Kur machen. Derzeit besuche ich noch eine Tagesklinik für meine Psyche. Nach meinem Burnout habe ich zum ersten Mal gelernt, auf meinen Körper zu hören und auf mich zu achten – nicht immer nur auf die anderen. Jahrelang ging es nur um mein Kind, um meinen Mann, um meine Familie, aber nie um mich. Ich war immer ganz außen vor. Ich bin mit 40 Grad Fieber zur Arbeit gegangen, weil ich Angst hatte, dass sonst die Station zusammenbricht. Es ist bescheuert, aber so war es. Leider gab es keinerlei Hilfe von meinem Arbeitsgeber.
Dort war es auch kein bisschen kinderfreundlich. Ich hatte fünf Mal im Monat Frühdienst, der Rest war Spätdienst. Sie wussten von Anfang an, dass ich ein Kind habe, trotzdem habe ich drei Wochenenden im Monat gearbeitet und hatte nur ein Wochenende im Monat frei. Ich habe das Gefühl, die Mitarbeiter*innen sind denen egal. Sie müssen ein bestimmtes Pensum erfüllen, eine bestimmte Statistik. Wenn jemand ausfällt, ist das katastrophal. Wenn ein*e Patient*in im OP stirbt, fallen alle weiteren OPs aus, die danach in diesem Saal stattfinden sollten – und das Geld fehlt am Ende. Es wird deswegen immer geschaut, dass Patient* innen im kritischen Zustand erst auf Intensivstation sterben, bloß nicht im OP-Saal. Ein*e Patient*in verlässt den OP lebend – egal wie.
Herzlich,
Nicole
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Galli, Septemberbild, 1990
Courtesy the artist; Kraupa-Tuskany Zeidler, Berlin
Photo: Mark Mattingly, 2018