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EIN ORT FÜR ALLE MENSCHEN

Einblicke in ein Berliner Mehrgenerationenhaus, in dem Vielfalt gelebt wird.

  • Oct 01 2021
  • Tim Ünsal
    studierter Gemeinwesen- und Sozialarbeiter in Berlin, arbeitet hauptamtlich für den Verein Nachbarschaftshaus Urbanstraße e.V. und entwickelt und begleitet Begegnungsangebote. Er hat in Berlin an der Evangelischen Hochschule und in Santa Monica, Kalifornien an der Academy of Entertainment Technology studiert.

    Shiwa Ghanbari studiert Kunst in Berlin.

„Das Mehrgenerationenhaus Gneisenaustraße ist ein nachbarschaftlicher Treffpunkt, in dem sich seit 2017 Jung und Alt und Menschen verschiedener Herkunft zusammenfinden können.“ So steht es auf der Website dieses Berliners Mehrgenerationenhauses (www.mghgneisenau.de), das unter der Trägerschaft des Vereines Nachbarschaftshaus Urbanstraße e.V. steht. Entgegen mancher Erwartungen handelt es sich dabei also nicht um einen Ort des generationenübergreifenden Wohnens, sondern vielmehr um einen Ort der Begegnung, des Miteinanders, des Zusammens. Um mehr darüber zu erfahren, wie genau das Konzept dort aussieht und wo die Schwerpunkte liegen, haben wir mit Tim Ünsal gesprochen. Er ist studierter Gemeinwesen- und Sozialarbeiter in Berlin, der für die Alphabetisierung, Begegnung und Digitalisierung im MHG Gneisenaustraße verantwortlich ist und bekennenderweise in die Kraft der Menschen, ihr Leben selbst zu gestalten, vertraut.


Shiwa Ghanbari: Bezieht sich der Name des Mehrgenerationenhauses auf die Menschen, die es besuchen, oder auf seine Geschichte?

Tim Ünsal: Unser Haus ist ein Begegnungsort in Kreuzberg 61, an dem das Miteinander der Generationen aktiv gelebt wird. Wir bieten Raum für gemeinsame Aktivitäten, schaffen ein nachbarschaftliches Füreinander und fördern das Miteinander. Mehrgenerationenhäuser stehen allen Menschen offen – unabhängig von Alter oder Herkunft. Jede und jeder ist willkommen. Der generationenübergreifende Ansatz gibt den Häusern ihren Namen und ist Alleinstellungsmerkmal: Jüngere helfen Älteren und umgekehrt. Wir versuchen, Bewohner*innen des Kiezes anzuregen und zu ermutigen, miteinander in Kontakt zu treten, nachbarschaftliche Beziehungen aufzubauen und sich für die Mitgestaltung des Kiezes stark zu machen.

SG: Wie bist du selbst auf das MGH aufmerksam geworden?

TÜ: Ich arbeite für das Nachbarschaftshaus in der Urbanstraße 21 und bin seit der Eröffnung des Mehrgenerationenhauses Gneisenaustraße im Jahr 2017 hier am Start.


SG: Erhaltet ihr öffentliche Fördergelder?

TÜ: Wir werden, wie etwa bundesweit 530 andereMehrgenerationenhäuser auch, vom Programm „Mehrgenerationenhaus. Miteinander – Füreinander“ des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert.


SG: Welches Programm kannst du empfehlen, um das Angebot des MGH besser kennenzulernen?

TÜ: Ich bin Fan des Reparatur-Stammtisches. Hier treffen Menschen mit defekten Alltagsgegenständen und wenig Reparatur-Know-how auf solche, die reparieren können. Über die gemeinsame Tätigkeit entstehen Freundschaften, werden Ideen ausgetauscht und Netzwerke geknüpft. Außerdem habe ich das Angebot Cooking with friends aufgebaut. Hier kochen wir sehr leckere Speisen und fördern die Kommunikation, Interaktion und Partizipation von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Generationen. Wir bieten Menschen mit und ohne Migrations- und Fluchterfahrung, Anwohner*innen des Kiezes und Bewohner*innen des Seniorenwohnhauses Gneisenaustraße einen Raum zur Begegnung und zum regelmäßigen Austausch. Cooking with friends versucht Menschen mit und ohne Flucht- und Migrationserfahrung zu vernetzen, um solidarisch an gemeinsamen Themen wie Wohnungssuche, Arbeit, Ausbildung und Deutschtraining zu arbeiten.


SG: Was ist dir wichtig, wenn jemand das MGH betritt?

TÜ: Als Ort der Begegnung sind wir ein Haus, in dem sich Menschen ausprobieren können. Mir ist an einer offenen, forschenden und neugierigen Haltung gelegen. Jeder Mensch hat seine eigene Weltsicht. Sie muss mir nicht gefallen, es ist aber von Vorteil, sie wertneutral zu akzeptieren, ohne dabei eigene Ansichten zu verleugnen. Individuelle Unterschiede gehören zu meinem Alltag als Sozialarbeiter. Begegnungen im Mehrgenerationenhaus bereichern und beleben, verlangen aber, dass alle Beteiligten in verstärktem Maße ihre sozialen Kompetenzen abrufen.


SG: Wie kam die Verbindung mit uns, also Arts of The Working Class, zustande?

TÜ: Ich habe euch über das „Aktionsbündnis solidarisches Kreuzberg – Obdachlosigkeit im Stadtteil“ kennengelernt, das zu Beginn des zweiten Lockdowns im
November 2020 gegründet wurde. Im Bündnis kommen u.a. Gemeinwesenarbeiter*innen aus Mehrgenerationenhäusern, Familien- und Stadtteilzentren und Nachbarschaftshäusern mit Kiezinitiativen, Organisationen und Vereinen aus der Wohnungslosen- und Obdachlosenhilfe zusammen. Die politische Hauptforderung des Bündnisses lautet: Wohnungen und Gesundheit für alle! – unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Das Aktionsbündnis solidarisiert sich mit obdachlosen und wohnungslosen Menschen mit und ohne Migrations- oder Fluchtgeschichte in ihrem Kampf um den Anspruch auf menschenwürdiges Wohnen und um eine uneingeschränkte Gesundheitsversorgung.


SG: Ihr seid seit etwa sechs Monaten Abholungsort für AWC. In welcher Verbindung stehen die verkaufenden Personen zum MGH? Kommst du mit Verkäufer*innen der Straßenzeitung ins Gespräch?

TÜ: Die Menschen sind oft etwas schüchtern und haben oft keine Lust, ins Haus zu kommen. Deshalb haben wir vor dem Eingang eine Box angebracht, in der die Zeitungen zum Abholen bereit liegen. Ich biete immer wieder Kaffee oder ähnliches an und suche das Gespräch. Aber Vertrauen braucht Zeit. Mit einigen Abholer*innen kommen wir langsam in Gespräch und tauschen uns aus.


SG: Was ist dir besonders wichtig an Fürsorge-Arbeit?

TÜ: Mir ist Vielfalt wichtig und damit die Verschiedenartigkeit der Menschen. Dazu gehört zum Beispiel, sich mit der Lebensgeschichte unser Besucher*innen
vertraut zu machen. Biografiearbeit ist eine Investition in das Gelingen von Fürsorge-Arbeit – genau wie Offenheit, Wertschätzung und Empathie. Jeder Mensch hat das Recht darauf, dass seine Würde und Einzigartigkeit respektiert werden.


SG: Mit welchen Themen wirst du hier oft konfrontiert?

TÜ: Im Stadtteil sehen wir Verdrängung und Obdachlosigkeit. Die Mieten steigen, Kündigungen wegen Eigenbedarfs nehmen zu, Nachbarschaften werden
durch Luxusneubauten zerstört, Mieter*innen verdrängt, Kleingewerbe entmietet usw. Aber auch Einsamkeit und soziale Isolation beschäftigen uns – und die Frage, wie wir ihnen in unserer Arbeit wirksam entgegenwirken können. Bei uns im Haus gibt es als Sonderschwerpunkt die Förderung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen. Wir sind Mitglied im Alpha-Bündnis Friedrichshain-Kreuzberg. Das Netzwerk hat sich zum Ziel gesetzt, Erwachsene zu unterstützen, die (besser) Lesen und Schreiben lernen möchten.


SG: Welche Erfahrungen machst du als Care-Arbeiter in Berlin?

TÜ: Unsere Gesellschaft driftet auseinander, Arm und Reich entfernen sich immer weiter voneinander und das spüren wir in der täglichen Arbeit. Auf der politischen Ebene hat sich eine rechtsnationalistische Partei etabliert, die mit völkisch denkenden Rechten und Demokratiefeinden durchsetzt ist. Rassistische Übergriffe und politische Gewalttaten werden häufiger. Begegnungen können Brücken zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen bauen und wecken Verständnis für die Lebenslagen und Interessen anderer.

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