Seit Herbst 2023 versucht der Bundestag eine fraktionsübergreifende Resolution zum Schutz jüdischen Lebens zu beschließen. Im Sommer wurde ein Entwurf der Resolution geleakt und führte zu breiter Kritik. Er wurde als verfassungswidrig und rassistisch bezeichnet und als Angriff auf die Meinungsfreiheit, die Kunstfreiheit und die Wissenschaftsfreiheit. Zudem wurde bemängelt, dass der Entwurf unter den Fraktionsspitzen von Ampel und Union im Geheimen ausgearbeitet wurde, ohne die Zivilgesellschaft und alle betroffenen (auch jüdischen) Gruppen einzubeziehen. Am Freitag, dem 1. November, wurde die aktuelle Version der Bundestagsresolution an den „Spiegel“ gegeben. Sie enthält nur kosmetische Änderungen gegenüber dem Entwurf vom Sommer. Sie ignoriert auch den am 23. Oktober in der FAZ veröffentlichten Gegenentwurf der Wissenschaftler:innen Ralf Michaels, Jerzy Montag, Armin Nassehi, Andreas Paulus, Miriam Rürup und Paula-I. Villa Braslavsky, der zeigt, dass eine grundrechtskonforme und zivile Resolution möglich wäre. Fast 4000 Menschen haben sich ihm in einem offenen Brief angeschlossen, der hier unterzeichnet werden kann.
Der Bundestag soll die Resolution am Donnerstag, den 7. November, um 9 Uhr beschließen. Dies ist eine Analyse der problematischsten Punkte der Resolution, erstellt von Wissenschaftler:innen und Kulturschaffenden.
1. Die Resolution gefährdet die Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland
Über hundert jüdische Intellektuelle in Deutschland wie auch die wichtigsten israelischen Menschenrechtsorganisationen sehen sich durch die Resolution nicht geschützt, sondern sind im Gegenteil sogar gefährdet. Die im Entwurf enthaltene Engführung zwischen Antisemitismus und Kritik an israelischer Politik setzt jene Jüdinnen und Juden in und außerhalb Deutschlands dem Antisemitismusverdacht aus, die der Politik Israels kritisch gegenüberstehen. Sie wären damit aus vielen Feldern und Tätigkeiten in Deutschland ausgeschlossen. Damit maßt sich der Entschließungsantrag an, zwischen schutzwürdigen und nicht schutzwürdigen Jüdinnen und Juden zu unterscheiden.
2. Die Resolution gefährdet die Freiheit von Wissenschaft und Kunst
Die umfassende Überprüfung von Kunst und Wissenschaft nach politischen Kriterien widerspricht den Grundsätzen eines liberalen Rechtsstaats. In der BMBF-Förderaffäre um Bettina Stark-Watzinger herrschte in fast allen Fraktionen Einigkeit, dass das Bundesforschungsministerium seine Förderung nicht von politischen Ansichten der Geförderten oder vermuteten politischen Anliegen ihrer Forschung abhängig machen kann. Nun fordert der Bundestag ebendas: eine Gesinnungs- und Inhaltsprüfung im Förderrecht. Der Resolutionsentwurf ignoriert zudem zahlreiche Hinweise, nicht zuletzt aus den eigenen Reihen (vgl. den offenen Brief von Jerzy Montag), dass eine solche Prüfung verfassungsmäßig zweifelhaft und praktisch kaum machbar ist.
3. Die Resolution schafft neue Diskriminierungen
Der Entwurf fokussiert “importierten Antisemitismus”. Er stigmatisiert den gesamten arabischen Raum und arabische Menschen per se. Damit wird suggeriert, der schwerwiegendste Antisemitismus käme nicht aus dem Land, dessen Vorgänger verantwortlich für den Holocaust ist. Dabei stellt die größte Bedrohung für Jüdinnen und Juden in Deutschland nach wie vor der Rechtsextremismus dar. Die Aufforderung zur Verschärfung von Aufenthalts- und Staatsbürgerschaftsrecht wird weniger den Antisemitismus in Deutschland bekämpfen, dafür aber die Rechte von Asylsuchenden und Migrant:innen weiter einschränken. Auch hierarchisiert sie einen gruppenbezogenen Minderheitenschutz, was dem Gleichbehandlungsgrundsatz widerspricht.
4. Die Resolution bewirkt Einschränkungen der Meinungsfreiheit
Trotz erheblicher Kritik aus der Antisemitismus- und Genozidforschung sowie von zahlreichen Jüdinnen und Juden, und ungeachtet mehrerer Alternativvorschläge, hält der Resolutionsentwurf an der umstrittenen IHRA-Arbeitsdefinition für Antisemitismus fest. Dabei ist dokumentiert, dass diese Arbeitsdefinition rechtsunsicher ist, die Analyse antisemitischer Praktiken, Äußerungen und Bilder weitestgehend vernachlässigt und vielfach instrumentalisiert wird, um völkerrechtskonforme Kritik an israelischer Politik zu delegitimieren. Zudem läuft die Engführung von Jüdinnen und Juden mit Israel gegenwärtig Gefahr, sie für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich zu machen. Die IHRA-Definition ist nicht nur als politisches Instrument ungeeignet, wie zahlreiche Holocaustforscher betonen, sie wurde auch nicht als solches entworfen - wie ihr Mitverfasser Kenneth Stern erklärt.
5. Die Resolution beschädigt internationale Zusammenarbeit und das Ansehen Deutschlands in der Welt
Schon jetzt stehen Institutionen der Wissenschaft und Kunst sowie NGOs und Stiftungen vor erheblichen Problemen in der internationalen Zusammenarbeit: Unabhängig von der politischen Einstellung der Partner wird Deutschland als Staat wahrgenommen, der anderen Bekenntnisse und Gesinnungen vorschreiben möchte. Das ist einer freiheitlichen Demokratie unwürdig und erinnert eher an Praktiken autoritärer Staaten. Würden Kernforderungen der Resolution umgesetzt, wird die Zusammenarbeit von Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen mit ausländischen Kolleg:innen erschwert, erheblich behindert oder sogar verunmöglicht. Es wäre nicht unwahrscheinlich, dass international angesehene Fachkräfte Deutschland verlassen, um dem Klima des Generalverdachts zu entgehen.
6. Die Resolution schwächt selbstverantwortliche Antisemitismus-Prävention
Die Resolution stellt Kultur und Wissenschaft unter den Generalverdacht des Antisemitismus und ebnet damit der Einschränkung von Kultur- und Wissenschaftsfreiheit den Weg. Und dies ohne die Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit: Für das akademische Milieu hat jüngst die Mannheimer Antisemitismus-Studie einen niedrigeren Antisemitismus-Anteil als für die Gesamtgesellschaft belegt. Für den Kulturbereich gibt es bislang keine entsprechenden Untersuchungen. Hier werden die immer gleichen zwei Anlässe als Beleg angeführt: Berlinale 2024 und documenta fifteen. Im Fall der documenta fifteen ist die Aufarbeitung, welche die Resolution fordert, im Rahmen der bereits bestehenden Maßnahmen des Rechtsstaats erfolgt: durch zwei gerichtliche Prüfungen, durch die Prüfung einer wissenschaftlichen Fachkommission sowie durch eine Reform der Institutionsstruktur. Mit der Propagierung repressiver Maßnahmen schafft die Resolution Rechts- und Handlungs-unsicherheit für Institutionen und Einzelpersonen. Sie unterminiert die vielfältigen Ansätze institutioneller Selbstregulation und eigenverantwortlicher Prävention von Antisemitismus.
7. Die Resolution gefährdet die Grundrechte
Die in der Resolution gegenüber der bisherigen Rechtslage geforderten erweiterten Kontroll-kriterien und Sanktionsmechanismen für Wissenschaft und Kultur gefährden die Grundrechte (u.a. auf Meinungs-, Kunst-, Wissenschafts- und Versammlungsfreiheit) und damit die Basis unserer Demokratie. Auf diese Weise ebnet die Resolution Autoritarismus und staatlicher Zensur den Weg und steht im Widerspruch zum freiheitlich-demokratischen Grundverständnis.
8. Die Resolution ist illiberal
Die Resolution ist zwar nicht rechtsbindend, hat aber trotzdem einen quasi verpflichtenden Charakter und soll Grundlage behördlichen Handelns werden. Sie leistet Selbstzensur Vorschub und wirkt verunsichernd und autoritär. Sie ist auf undemokratische Weise, ohne Öffentlichkeit und sogar ohne Mitwirkung des Bundestages, zustande gekommen. Und auch ihre Inhalte sind in großen Teilen undemokratisch. Sofern es sich um antisemitische Straftaten handelt, sind diese auch ohne Resolution sanktionierbar. Wenn die Forderungen nach repressiven Maßnahmen irgendwann von den Gerichten als rechtswidrig oder verfassungswidrig beurteilt würden, wie es die juristischen Kritiker:innen mehrfach angemahnt haben, hätte der Bundestag selbst einen Präzedenzfall der Illiberalität geschaffen.
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