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Für mehr Dialoge, die harte Kanten schmelzen lassen

Über "Trotzdem sprechen", eine Anthologie, die gerade durch ihre Unvollständigkeit zeigt, wie soziale und politische Themen in der Kunst ruhiger und toleranter behandelt werden können.

„Ich bin im Flüchtlingsheim aufgewachsen, ich hab wirklich viel Scheiße erlebt, aber das alles, all diese traumatischen Erfahrungen, sind nichts gegen das Schlimmste, was mir in diesem Zusammenhang je passiert ist: Deutsche mit einer Meinung zum Nahostkonflikt“, so der deutsch-palästinensische Poetry-Slammer Abdul Kader Chahin am Schauspielhaus Düsseldorf im vergangenen März. „Ich würde jederzeit einen Monat Flüchtlingsunterkunft gegen zehn Minuten Smalltalk mit einem Alman über dieses Thema tauschen. Als hätte man in Deutschland 70 Jahre lang sehnsüchtig darauf gewartet: Endlich sind die anderen die Antisemiten! Die Ausländer! Die Palästinenser!“

Chahin hat recht: Deutschland muss sich von der Illusion verabschieden, dass es möglich sei, sich von der Verantwortung für die eigene, von Migration geprägte Realität zu lösen. Das ist vielleicht die einzige Schnittmenge, an der sich alle zwischen Rechtsextremisten und progressiven Linken treffen können. Denn diese fatigue angesichts des Holocausts als Sonderereignis erniedrigt alle anderen Kämpfe unterdrückter Völker, die Millionen unsichtbaren Toten weltweit, und unterstützt zugleich die gewaltsamen Remigrationsfantasien der Identitären, die glauben, alles wäre besser ohne Migrant*innen. Die Illusion, ein Versprechen reiche aus, um zu verhindern, dass dieser Genozid sich wiederholen kann, hat auch Monster produziert. Sie tanzen auf Sylt mit Hitlergruß und nutzen den angeblichen Kampf gegen Judenfeindlichkeit als Alibi zum Ersticken von Solidaritätsbekundungen mit Palästina und für eine islamfeindliche Agenda.

Das Buch “Trotzdem sprechen” wurde im Frühling dieses Jahres veröffentlicht, “an einem Knotenpunkt, der sich vielleicht am besten so darstellen lässt: In Israel und Palästina herrscht Krieg, Menschen befinden sich in Geiselhaft, der gesamte Gazastreifen erlebt eine humanitäre Katastrophe – und in Deutschland spricht man vor allem über Deutschland”. Mit diesen Worten leiten die Herausgeberinnen Lena Gorelik, Miryam Schellbach und Mirjam Zadoff eine Reihe an Essays ein, die zunächst unvollständig wirkten, aber bewusst so veröffentlicht wurden. Der Mut aller zwanzig Autor*innen, in erbittert geführte Grabenkämpfe zu blicken, wird von Bescheidenheit und Offenheit begleitet. 

Hier werden Werkzeuge erprobt und zur Verfügung gestellt, um Meinungsverschiedenheiten auszuhalten und um mehr zu erreichen als Meinungen, mindestens eine antifaschistische Haltung. Ganz im Geiste der pluralen Perspektiven von “Trotzdem sprechen” möchte ich im Folgenden eine Besprechung des Buches mit persönlichen Anekdoten verknüpfen. Dabei versuche ich, Schritte zusammenzufassen, mit denen vielleicht Methodologien in den Blick kommen, die es erlauben, gesellschaftliche Bindungen zu bauen, statt sie zu zerstören.

“Vor- und Nachmittagssorgen, Abendsorgen”

Mirjam Zadoff beginnt ihren Vortrag mit der Bitte um Nachsicht: Sie sei betroffen und schockiert. Bereits die vergangenen Monate hätten eine Eskalation der Gewalt in Israel und Palästina mit sich gebracht, doch nun sei der 7. Oktober in Stuttgart, und sie lese auf ihrem Smartphone von mehr als hundert Zivilist*innen, die erschossen wurden; von Menschen in Geiselhaft; von Terroristen, die durch die Kibbuzim an der Grenze zum Gazastreifen ziehen und zerstören, was ihren Weg kreuzt – ausgerechnet in Zentren der israelischen Linken und der Friedensbewegung.

Trotz Zadoffs persönlicher Sorgen und Ängste um Bekannte und Verwandte in Israel, die direkt von den aktuellen Ereignissen betroffen sind, beschäftigt sie sich in ihrem Text mit der zunehmenden Polarisierung und Radikalisierung in Deutschland. Die öffentliche Auseinandersetzung darüber fand bis Anfang des Jahres nur selten in Kunstinstitutionen statt. Eine Ausnahme bildet die Bundeskunsthalle in Bonn mit der Reihe “A mentsh is a mentsh – Kunst und Kultur nach dem 7. Oktober” über den Umgang mit Antisemitismus, Rassismus und Postkolonialismus in Deutschland.

Zur zweiten Folge im März reist der Holocaust-Historiker Omer Bartov für ein paar Stunden aus Boston an, um seinen Beitrag zur deutschen Diskussion zu leisten, die er als hermetisch beschreibt. Von Moderator Meron Mendel gefragt, was sein Vater wohl sagen würde, Kriegsheld und gefeierter Schriftsteller, antwortet Bartov: “Netanyahu is the worst thing that could have happened to Israel. (...) It is time for this conflict to be resolved and as an old soldier he would say you cannot resolve conflicts with war.”

“Trauer und Misstrauen”

Bartov berichtet von seinen Gesprächen mit vielen Menschen in Israel, die härter seien als die in Bonn oder Stuttgart: Empathie für die Palästinenser*innen sei derzeit nicht vorhanden. Die Unfähigkeit und der Unwille vieler Israelis hätten sich seit dem 7. Oktober noch verstärkt. "Ihre Herzen sind verschlossen", sagt Bartov. Das gilt auch für Teile der Kunstszene in Deutschland, denke ich, während ich ihm aufmerksam zuhöre.

Im Buch fragt die Schriftstellerin Kathrin Röggla: “Ist es ein Canceln, wenn ich aus politischer Vorsicht ein Podium so gestalte, dass es kontrovers, aber nicht toxisch wird?” Viele, die (wie sie in der Akademie der Künste Berlin) Leitungspositionen in Kultur- und Kunstinstitutionen besetzen, verharrten dagegen in einer Art Schockstarre, was Gespräche unmöglich mache. Es gäbe jedoch auch Gründe für diese Situation, die nicht nur im aktuellen Konflikt in Gaza liegen, sondern schon länger bestünden. Es gäbe interne Gründe innerhalb der Kunstwelt, sowie technologische Gründe auf der Ebene der Medien und Plattformen. 

Was wir derzeit beobachten, sei ein lautes Schweigen. Dabei ist es hauptsächlich deshalb laut, weil alle durcheinander reden. Ein paar Seiten weiter hat Nazih Musharbash auch einen Vorschlag, wie sich die Gesprächskultur in Deutschland auf allen Ebenen verbessern ließe: zuhören statt nur darauf zu warten, dass jemand etwas sagt, das man als angreifbar oder cancel-bar darstellen kann. 

“Stammeln in Getöse”

Das Ringen um die richtigen Worte steht auch im Mittelpunkt des Beitrags der Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) Paula-Irene Villa Braslavsky. Sie beginnt mit der Stellungnahme der DGS zu den Angriffen der Hamas: “(...) Die DGS verurteilt den Terror gegenüber Zivilisten in Israel in aller Eindeutigkeit. Unser Mitgefühl und unsere Solidarität gilt allen Opfern von Terror und Gewalt und ihren Angehörigen. (...) Wir möchten die Mitglieder der DGS gern ermuntern, diese praktische Solidarität auch in ihren Netzwerken zu pflegen.”

„Solche Sätze“, gesteht Villa Braslavsky post-factum, “bringen nichts”. Sie dienen lediglich dazu, unsere eigene Haltung und Position zu artikulieren. Das kann unter Umständen einen Unterschied machen, jedoch auch zur selbstgefälligen Selbstbestätigung führen. Stellungnahmen und offene Briefe werfen unweigerlich die Frage auf: Warum geht uns etwas an? Was betrifft uns so sehr, dass wir uns dazu verpflichtet fühlen, etwas dazu zu schreiben? Und was nicht, wie das Morden im Sudan?

Mit ihren Fragen in meinem Kopf befand ich mich mit befreundeten Journalist*innen aus Tel Aviv auf dem Weg nach Hebron im Westjordanland. Es ist ja erstaunlich einfach, sich vom sogenannten Nahostkonflikt selbst vor Ort ein Bild zu machen. Erstaunlich, dass, wie Meron Mendel letztes Jahr im „Spiegel“ schrieb, nur sieben Prozent der Deutschen davon je Gebrauch gemacht haben – weit weniger, als eine Meinung zu Israel oder Palästina haben.

Issa Amro ist eine zentrale Figur im gewaltlosen Widerstand gegen die illegale Besatzung palästinensischen Territoriums im Westjordanland und die Gewalt von israelischen Siedlern an Palästinenser*innen. Um die Jahrtausendwende führte er den erfolgreichen Protest gegen die Schließung der Polytechnischen Hochschule in Al-Khalil/Hebron an. Er führt seine Gäste – mal deutsche Politiker*innen, mal Journalist*innen der „New York Times“ – durch die Stadt Al-Khalil/Hebron mit ihrem jahrhundertealten Markt, der regelmäßig von Siedlern mit Müll beworfen wird. Er führt uns vorbei an israelischen Soldaten und Polizisten, auch wenn er immer mit dem Risiko rechnen muss, angehalten oder sogar angegriffen zu werden. 

Amro hat Folter durch direkte Nachbar*innen erlebt. Er hat eine einfache Botschaft aus der realen Konfliktzone: Auch wenn die Konflikte hart sind, auch wenn es Streit gibt, der sich zuspitzt – reden hilft. Gespräche ermöglichen Verständigung. In seinem verwüsteten Garten, der regelmäßig von Siedlern vandalisiert wird,serviert Amro Kaffee und Datteln. Gegenüber Politiker*innen, gerade aus der Europäischen Union, wirbt er immer für folgenden realpolitischen Vorschlag: radikale Siedlerorganisationen verbieten und die Korruption der Administration in Ramallah bekämpfen. 

Gegen alle Sabotageversuche führt er in seinem Haus weiter Workshops und Projekte durch. Bei “Counter Surveillance” etwa wird das Wachstum von Olivenbäumen mit Kameras überwacht – eine symbolische und agrartechnische Maßnahme des Schutzes dessen, was den Palestinenser*innen in Hebron übrig bleibt. Das Projekt entstand u.a. gemeinsam mit Adam Broomberg und dem Kollektiv Artists + Allies x Hebron (AAH). AHH organisierte jüngst die Ausstellung “South West Bank” in Venedig, die parallel zur 60. Kunst-Biennale stattfand. 

Als ich Amro frage, ob ein Boykott des israelischen Pavillons, der in diesem Jahr von der Künstlerin Ruth Patir bespielt wurde, oder eine Kampagne wie Strike Germany ihm helfen würden, Aufmerksamkeit für seine Arbeit zu generieren, verneint er. “I am not interested in boycotting Israeli artists. I am not interested in BDS. I am interested in amplifying Palestinian voices and all possible movements that help us improve the corrupt political situation here. These statements do not really help us. The focus should be on the liberation of the Palestinians and the improvement of their lives.”

„We the Jews“

Julia Y. Alfandari behandelt in „Trotzdem sprechen“ die komplexe Identität des Jüdischseins und die damit einhergehenden Herausforderungen, insbesondere im Kontext der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Spannungen. Sie problematisiert und hinterfragt diese homogenisierende Haltung und macht anschaulich, welche unterschiedlichen jüdischen Geschichten und Identitäten mitbedacht werden müssen. Vor diesem Hintergrund macht sie das Ausmaß der gegenwärtigen Entmenschlichung deutlich, in der Juden nichts sein dürfen, außer entweder Opfer oder Täter. Alfandari plädiert dafür, die Diskussion über Schuld und Opferstatus hinter uns zu lassen und uns auf politische Verantwortung zu konzentrieren. Sie kritisiert zugleich die Instrumentalisierung von Juden für rechtsextreme Politik (wie in der Gruppe Fridays for Israel). Was aber ist mit der Instrumentalisierung der Palästinenser*innen und deren nicht weniger fragilem „Wir“, das in so vielen Ländern überhaupt nicht akzeptiert und anerkannt wird? 

“I don’t need [the art community’s] hate to mourn the killing of children in Gaza”, sagt mir Ruth Patir in Tel Aviv, als wir über die Voreingenommenheit der lokalen und internationalen Linken sprechen, und über die Notwendigkeit, über geteilte Traumata hinweg Empathie und Bündnisse  zu schaffen – was immer voraussetzt, den Schmerz des Anderen anzuerkennen. Patir, die sich nach dem internationalen Protest auch gegen ihre Person entschloss, den israelischen Pavillon für die Forderung nach einem Waffenstillstands zu nutzen, kritisiert die Schließung von kulturellen und diskursiven Räumen und fordert, genau wie Alfandari in ihrem Essay, mehr Mut für Dialog und Verständigung. Patir und Alfandari betonen auf unterschiedliche Art und Weise, dass es notwendig sei, sich nicht mit dem Status quo zufrieden zu geben, sondern sich für eine gerechtere Zukunft einzusetzen und dabei so viele Menschen wie möglich mitzunehmen. 

“Jenseits und dazwischen in neun Gedanken”

Lange fehlte Hannan Salamat die passende Sprache, um das von ihr gegründete Münchner Kunstfestival ausArten zu beschreiben. Es soll die radikale Vielfalt der Stadt feiern und Dialoge schaffen, um über antimuslimischen und antisemitischen Rassismus sowie politische Freund*innenschaften zu sprechen. “So, wie sich alles verändert”, schreibt sie, “wandelt sich auch das Verständnis von Gemeinschaft, religiöser Identität und Zugehörigkeit”. Wie Salamat war auch die Friedensaktivistin Vivian Silver davon überzeugt, dass wir alle gleich seien und mit allen zusammenarbeiten könnten, solange wir ähnliche Werte teilen. Darüber hinaus erkannte sie, dass Israelis und Palästinenser*innen voneinander abhängig sind. Ich denke an alle Migrant*innen und (Bio-)Deutschen und denke, auch wir sind voneinander abhängig.

Wie lässt sich im aktuellen Klima schmerzhaften Verhärtungen entgegenwirken – mit den hier geteilten Werkzeugen, durch Zuhören und mit der Bereitschaft, andere Positionen auszuhalten? Um eine radikal konstruktive und respektvolle Debattenkultur in Deutschland zu fördern, sollten folgende neun Schritte konsequent verfolgt werden: 

  1. Unabdingbare Empathie und Solidarität für alle Betroffenen. Antifaschismus, aber mit Manieren
  2. Rigorose Wertschätzung der Pluralität der Meinungen und Hintergründe
  3. Pflege von Offenheit und Bescheidenheit für fruchtbare Diskussionen
  4. Bereitschaft zur kognitiven Flexibilität, um festgefahrene Meinungen zu hinterfragen
  5. Förderung toleranter und respektvoller Kommunikation
  6. Unermüdliche Forderung nach struktureller Gleichheit und Gerechtigkeit
  7. Umfassende Kontextualisierung historischer und aktueller Ereignisse 
  8. Unterstützung und Förderung kritischer Allianzen zwischen verschiedenen Gruppen
  9. Handeln in Selbstreflexion: Ist es notwendig, Recht zu haben, oder kann ich die Menschen in Ruhe trauern lassen?

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“Trotzdem sprechen” ist ein erster Versuch, der noch lange nicht ausreicht. Der Band zeigt eher, wie viel Arbeit noch vor uns liegt. In Kooperation mit dem Jüdischen Salon am Grindel e.V. sprechen Autor*innen des Sammelbands Lena Gorelik und Hadija Haruna-Oelker am 9. August am Kampnagel in Hamburg weiter. Am 28. September sprechen Golerik, Sandra Hetzl, Maryam Zaree und Miryam Schellbach am Gorki Theater.



  • IMAGE CREDITS

     

    Cover: Unknown Author, Peggy Parnass with protest sign „Kleine Radikale Minderheit“ [small radical minority], 1983. aus dem Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Foto: unbekannt © Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

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