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HELLERMANNS SORGEN

Eine Geschichte über die Beziehung zwischen Klängen, Unternehmen und Verbrauchern.

  • Aug 16 2022
  • Avi Bolotinsky
    is a writer, director and language service provider. She studied philosophy, history of science and photography. She lives in Berlin and/or in Hamburg.

Im Flugzeug von München nach Tel Aviv träumte Josef Hellermann, dass er einen Jingle für die Revolution komponieren sollte. Der Auftrag kam von der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung, die eine möglichst zugängliche Kampagne starten wollte und deshalb einen Werbekomponisten angefragt hatte statt eines richtigen Komponisten. Die letzte Aussage versuchte Hellermann dem Staat nicht übel zu nehmen. 

Für die Abgabe bekam Hellermann Besuch von einer zierlichen Frau mit hübschem Gesicht und leicht zerzaustem blonden Bob. Er ließ sie in die Wohnung und fing an, die Tongeräte und Lautsprecher einzuschalten. Die Frau zog ihre Schuhe aus und stellte sie leise und sorgsam in die Ecke. Es waren abgetragene Dansko-Clogs mit massiven Holzabsätzen. Die Schuhe wirkten klotzig, versprachen aber viel Komfort. Vielleicht ist sie Krankenschwester, dachte Hellermann. Oder Lesbe. Die Jalousien in der Wohnung waren geschlossen. Durch die Schatten wirkte das Wohnzimmer noch schmaler, als es in Wirklichkeit schon war. Die Frau bahnte sich ihren Weg durch die Wohnung und lehnte sich vorsichtig an die Fensterbank. Sie nahm ihre Tasche unbequem auf die Knie und wühlte in ihr herum. “Ich muss nur kurz… ah ja.” Sie unterbrach sich selbst und holte ein kleines schwarzes Notizbuch hervor. Hellermann setzte sich auf den quietschenden Hocker vor die Klaviatur und fummelte willkürlich an den Tonreglern herum, bevor er erstarrte. 

Seine ganze Karriere bestand daraus, dass er Dingen eine wiedererkennbares Gesicht gab. Früher hieß das auch mal, lange, dudelige Werbelieder für Haftpflichtversicherungen zu komponieren, aber mit der Zeit wurden viele Aufträge abstrakter und subtiler. Klänge wurden Teil und Mittel einer größeren Idee – der von Unternehmen als Besitzer einer jeweils eigenen Stimme. Sie sprachen und klangen und bildeten Beziehungen zu Konsumenten oder Möchtegern-Konsumenten. Ob Konsum nicht schon bei der Vorstellung des Konsums anfängt, ist eigentlich eine gute Frage, dachte sich Hellermann. Er starrte weiter die Klaviatur an. 

Hellermann wusste nicht, wie die Revolution klingen sollte und war überrascht, mit welcher Leichtigkeit er diesen Auftrag angenommen hatte. Er verstand nicht mal, ob die Revolution selber das zu bewerbende Produkt war oder das, was nach der Revolution kommen sollte. Er schaute hilflos zu der Frau. In deren Gesicht entfaltete sich langsam eine leichte Sorge. Hellermann hatte gar keine Sprache, um vernünftige Fragen zu stellen. Er drehte sich wieder zu den Tasten und legte seine Hände darauf. In seinem Kopf geisterte die Melodie einer Sportriegel-Werbung umher. Es war ein schwungvolles, flinkes Geklimper, das an  Fahrradfahren erinnern sollte, bergauf und bergab. Könnte was für die Revolution sein, dachte er.

Hellermann wachte auf und schaute zu seinem Sitznachbarn, der den kleinen Plastiktisch vor sich aufklappte. Das dicke, hellgraue Rauschen des Flugzeugs erfüllte den Raum. Serviert wurde ein Frühstück aus Brot, Butter, einem kleinen Obstsalat, einem Käseomelette und einem weichen, aber leider sehr faden Brioche. Hellermann bedankte sich höflich beim Flugbegleiter und spürte beim Lächeln das Ziehen getrockneter Spucke in seinen Mundwinkeln. Nach dem Essen schlief Hellermann wieder ein, seine Hände lagen offen und fragend auf seinem vollgekrümmelten Schoß. 

Hellermann und die Frau ließen sich auf dem Wohnzimmerboden nieder, ihre Beine und Arme ineinander verschlungen. Sie hielten einander und trugen ganz entzückende rote Mützen. Hellermann spürte eine Brüchigkeit, die er nicht verorten könnte. “Es gäbe keine Möglichkeit, die Abgabefrist zu verlängern, oder?”, fragte er die Frau, seine Stimme durch den Kragen ihrer Jacke gedämpft. Im Hintergrund summten leise die Lautsprecher.

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Banner: Michael Kohls, Mothers Plants, Berlin 2021.
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This Contribution was released with the support of Rudolf Augstein Stiftung, Bundesverband Soziokultur, Neustarthilfe, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.

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