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HUNDERT JAHRE ARCHITEKTIEREN 1938-2038

  • Jul 29 2021
  • Christian Posthofen
    ist Philosoph und Historiker. Von 2019— 2029 lehrte er “Theorie & Praxis” an der ETH Zürich. Er lebt in Berlin.

„ARCHITEKTIEREN“, WAS HEISST DAS?

Im Deutschen gab es lange kein Verb für die Aktivitä- ten von Architekten. „Bauen“ lautete die logische Beschreibung. Die Antwort verweist schon auf ein, im systemthe- oretischen Sinn, nach Niklas Luhmann geschlossenes, sich selbst erhaltendes, autopoieti- sches System [1]. Der Code nach dem in Systemen alle Umwelt- einflüsse ausschließlich beurteilt werden, lautet binär immer nur „Ja / Nein“, in diesem Fall „Bauen / Nicht-Bauen“. Die Entscheidung des Archi- tektursystems lautete zwecks Selbsterhaltung dann immer nur „Bauen” [2]. Nachdem durch den „spatial turn“ in den 1980er Jahren alle Arten von Kultur- wissenschaften den Raum als wesentlichen Gesichtspunkt ihrer Untersuchungen mit sehr fruchtbaren Ergebnissen entdeckt hatten, öffnete sich das Architektursystem und lös- te sich aus seiner einseitigen strukturellen Kopplung mit dem Wirtschaftssystem [3]. Aus dieser Öffnung entwickelte sich die, heute selbstverständ- liche, relationale Architek- turauffassung als sogenannte „relational architecture“. Relationale Architektur ist code- kritisch, d.h. ist selbstreflexiv, sieht sich in Wechselwirkung und Verhandlung mit anderen Systemen und ordnet den, bis in die 2020er Jahre geltenden Primat des Codes des Wirt- schaftssystems, „Profit“, all diesen Relationen und ihren Effekten unter [4].               

Nach den Nullerjahren setzt sich mit dem Englischen architecting auch alltagssprachlich die eher offene, relationale Bedeutungsebene, gegen erbitterte Widerstände aus den Ständevertretungen des Architektursystems durch. Architekten sind ab dem Moment nicht mehr rein auf das Objekt, das Gebaute, ihre Baumeisterschaft fokussiert [5]. Architek- tur wird also Anfang des 21. Jahrhundert neu de- finiert: wesentlich relational, und immer politisch. Die Wechselwirkung rückt in den Fokus des Ent- wurfs. Architekten arbeiten in Teams mit Akteuren aus unterschiedlichsten Feldern zusammen und auch solche Ak- teure betreiben architecting, architektieren. Räume werden als kontextuelle Ensembles, Situationen aus materiellen und immateriellen Elementen ver- standen, die nicht nur gebaut, sondern architektiert werden. Die Zugänglichkeit zu räum- lichen Situationen wird seit- dem nicht mehr durch Wände und Türen geschaffen, sondern durch die bereits im Entwurfs- prozess mitgedachten Kategorien wie soziale Herkunft, Bildung und durch alle Arten von psychosozialen und soziologischen Beziehungen.

Architektieren beinhaltet aber immer noch dieses „arche“, dieses mit „Behausung“ zu tun habende „Räumliche“. Konnte kurz nach der Jahrtausend- wende bereits der Architektur- begriff geöffnet werden, indem man etwa formulierte, „Archi- tektur ist das Ordnen von sozialen Beziehungen durch Ge- bautes“, sind es seit den 2020er Jahren Formulierungen wie –

„Architektieren ist das Ordnen von Wechselwirkungen durch das Eingreifen in Räumliches“ [6]. 

Räumliches schließt hierbei den digitalen Raum ebenso ein wie die Wechselwirkungen mit an- deren Spezies. Inzwischen ge- schieht das „Bauen“ nicht mehr durch die überkommenen baumeisterlichen Büros, sondern wird durch wenige Großbüros geplant, die mit Robotern und künstlicher Intelligenz die öf- fentlichen Aufträge bearbeiten. Architekturbüros, planen in ei- nem weiten Sinne räumliche Projekte und architektieren Situationen gesteuert von den ultimativen ökologischen Fragen nach dem Klimawandel.

Diese Bewusstmachung der Situation durch architektonische Akteure ist eigentlich eine Mahnung: Alle Kulturen besitzen schon immer von Architekten hergestellte „Architektur als Bedeutungsträger“. Diese sind Produkte von Wechselwir- kungen [7], doch diese apriorische Setzung wurde lange durch den eingeschränkten Blick auf die ar- chitektonische Ikone, das Gebau- te, aus der Verantwortung der Architekten verbannt, bewusst igno- riert und verdrängt.

Exemplarisch für diese anti-relationale Haltung standen noch 2011 Äußerungen des sei- nerzeit erfolgreichsten deutschen Architekten Meinhard von Ger- kan anlässlich der Eröffnung des von seinem Büro gebauten Chine- sischen Nationalmuseums in Bei- jing. Gerkan behauptete ganz in der Logik des alten Architektur- systems auf die Frage: „Ist es als Architekt überhaupt möglich, bei so einer symbolischen Aufgabe wie dem Bau eines chinesischen Nationalmuseums am Platz des Himmlischen Friedens [8], eine kritische Distanz, auch zum eigenen Auftraggeber, zu wahren?“ im Wortlaut „Ich denke nicht, dass es eine Aufgabe der Architektur ist, eine „kritische Distanz“ zu wah- ren oder auszudrücken. Die Verantwortung jedes Einzelnen und das individuelle Handeln sind et- was anderes. ... an keiner Stelle des Auftrags hat sich uns die Fra- ge gestellt, für welches System wir bauen“ [9].                

EIN BLICK HUNDERT JAHRE ZURÜCK

1938: Bei der Einweihung des zum faschistischen Monumentalbau umgestalteten Deutschen Pavillons in den schönen Giardini Venedigs, eines bis dahin harmlosen klassizistischen Tempelchens, zeigte sich das Architektieren, die Potentialität der relationalen Architektur, in seiner dunkelsten Form. Mit Hilfe des Ordnens der Wechselwirkungen zwischen den ma- teriellen und immateriellen Elementen des Tempel- chens und deren vom Architekten und seinen Bau- herrn vorhergesehenen Wirkungen entstand ein Be- deutungsträger für „Germania“, den Faschismus und das tausendjährige Reich. Die Wort-Äquivokation von „Germania“ mit dem Italienischen „Germania“, wie der Pavillon auch schon zuvor genannt wurde, war ein willkommener Zufall. Das war auch Archi- tektieren! Aber Architektieren aus dem Geist eines übergeordneten totalitären Systems mit dem Ziel und Code, jede Form von Diversität auszuschalten.               

Der Pavillon in Venedig stand bereits symbolisch für das Architekturprogramm der von Adolf Hitler und seinem Architekten Albert Speer gemeinsam wunschfantasierten Reichshauptstadt Berlin, in der Folge „Welthauptstadt Germania“ genannt. 1937 wurde Albert Speer zum „Generalbauinspektor für die Neugestaltung der Reichshauptstadt“ ernannt und hatte ab da allen Institutionen gegenüber „An- ordnungsbefugnis“ die ihm uneingeschränktes Ar- chitektieren zur Verwirklichung des totalitären Bau- ens ermöglichte. Als erstes startete er ein Gesetz zur „Entwohnung“ der Juden, es folgten deren Enteig- nung und Deportation [10]. So sollte Platz für die Achsen und Flächen für die Großbauten von „Germa- nia“ geschaffen werden. Der Architekt wurde zu ei- nem der strategisch wichtigsten Begleiter Hitlers, als „Designer“ in jeder Hinsicht, vom kleinsten Detail bis zum totalitären Überbau, am Ausbau des Nationalsozialismus beteiligt. Diese Extremform eines to- talitär homogenisierten Architektierens wiederholte sich in mehr oder weniger abgeschwächter Form an verschiedensten Orten und Zeitpunkten der letzten 100 Jahre. Etwa in Brasilia, Pjöngjang, chinesischen Retortenstädten, oder auch im doppelten Berlin wäh- rend der ideologischen und politischen Teilung der Stadt nach dem zweiten Weltkrieg.

Aus ideologiekritischer Sicht war für Berlin die Situation nach dem Mauerfall interessant. Irgend- wie mussten die Codes für das Architektieren der beiden Gesellschaften in Einklang gebracht werden. Dies gelang offensichtlich nicht. Durchgesetzt haben sich zum einen die Codes des auch transnati- onal bereits agierenden Finanzinfrastruktursystems und andererseits die Codes der rückwärtsgewand- ten, national denkenden Konservativen. Der Potsda- mer Platz und die Museumsinsel sind hierfür Bil- der. Kaum fassbar bei dieser Durchsetzung war der Rückfall der Architekten in das alte binäre „Bauen/Nicht-Bauen Schema“ anlässlich des Wettbe- werbs zur Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses. In bei- spielloser Geschichtsvergessen- heit nahm man zunächst den Abriss des Palasts der Republik, des zentralen Gebäudes der DDR, hin und vergab damit die Chan- ce einer diversen Lesbarkeit von Architektur und der Systeme, in denen diese agierte. Dass aber die gesamte Architektenschaft Wettbewerbsbeiträge für die Rekonstruktion eines Schlosses aus dem 19. Jahrhundert, in dem die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts von der deutschen Monarchie legitimiert wurden, eifrig einreichten, ist aus heutiger Sicht nicht mehr vorstellbar. 158 Büros, die überhaupt nur über die in der Auslobung geforderte Größe verfügten, hatten sich ohne Ausnahme mit ihren Einreichun- gen wie selbstverständlich dazu entschieden dem alten Code „Bauen“ zu folgen. Das gesamte Architekturfeld diskutierte ledig- lich die Ästhetik der Entwürfe.               

JENSEITS DES BAUEN / NICHT-BAUEN SCHEMAS               

Die Liste solchen selbstbezüg- lichen, unreflektierten Architek- tierens ließe sich beliebig fort- setzen. Sowohl ökonomische als auch national-konservative Sys- teme und deren Akteure sind meist mit im Spiel. Ein Beispiel ist zum Ende der 2010er Jahre die Rekonstruktion der Frank- furter Altstadt um den mittelal-              

terlichen Römer, oder auch der klassizistische Rück- bau von Potsdam, das Barberini, mit dem die Innen- stadt nun den Babelsberger Filmkulissen der 1930er Jahre glich. Hier fühlten sich die neoliberalen Eliten in ihrem vormodernen Ständebewusstsein wohl. In die- sen beiden Fällen waren nicht nur Architekten die Akteure des Geschehens, sondern auch nationalis- tische Gruppierungen, welche die Ereignisse im digitalen Raum forcierten. Die Akteure des rück- wärtsgewandten und nationalen Architektierens über- sahen auch, dass längst transnationale und globale Wechselwirkungen die Realität in den ehemaligen Nationalstaaten bestimmten. Konnte Angela Merkel zu Beginn der weltweit immer stärker auftretenden Migrationsbewegung noch proklamieren „wir schaf- fen das“, gewannen Rechtskonservative in der Folge ohne Reflexion der Migrationsursachen mehr und mehr Zulauf. Das Ignorieren der klimatischen Veränderungen etwa in der Ära Trump und durch Fake News (die auf das Ganze gesehen einseitige Nutzung des digitalen Raums durch den transna- tionalen Plattform- und Finanzkapitalismus), sind nur zwei von vielen Gründen, die eine global in den Bevölkerungen einsetzende Erschütterung in die Glaubwürdigkeit der Systeme und der diese steuernden Akteure verursachte.

Die Ausbreitung des Corona-Virus als globale Krise und die folgenden Lockdowns wirkten zunächst restaurativ, dann aber als Beschleuniger eines Paradigmenwechsels. Normen wurden aus einer erlebten existentiellen Verunsicherung heraus jetzt eben auch existentiell überdacht - sowohl in- haltlich, als auch das Normensystem und sein Funk- tionieren überhaupt. Der im Regierungsauftrag han- delnde offizielle „Deutsche Ethikrat“ sprach angesichts der Pandemie in einer Erklärung im März 2020 bereits von „Normenkollision“ und „Multiakteurs- verantwortung“ [11]. Normen wurden zwar immer noch als strukturbildend notwendig betrachtet, aber eben verhandelbar und politisch motiviert. Partizipativ- kollektiv wurde wichtiger als repräsentativ-elitär. Individualität wurde zugunsten von Gemeinschaft zurückgehalten. Der mit der Pandemie einsetzende enorme und so bis dahin unvorstellbare Handlungs- und Erfolgsdruck führte letztlich zu einem Um- denken.

Mit den Instrumenten von Partizipation setzte sich mehr und mehr in allen gesellschaftlichen Feldern die code-kritische Sicht auf die Effekte der Wech- selwirkungen erfolgreich durch. Auch wenn bei- spielsweise Architekten das Tempelhofer Feld, das Gelände des ehemaligen Berliner Flughafens, in den 2010er Jahren gerne wenigstens teilweise noch bebaut hätten, nach der Verhandlung der Systeme wurden hier bereits neue räumliche Proportionen sichtbar. Architektieren schlug hier bereits „Nicht Bauen“ für die Gestaltung der urbanen Relationen vor. Weitsichtige soziale und ökologische Gesichts- punkte setzen sich gegenüber kurzsichtigen ökonomischen durch. Mit „Kiez-“ und „Milieuschutz“ verhalf Architektieren den Gemeinden zu einem Vorkaufs- recht für noch in Privatbesitz befindliche Immobili- en, sowie zu weitreichende Einflussmöglichkeiten in Eigentumsverhältnisse [12]. In Deutschland wurde nach den Beschränkungen der Grundrechte im Zu- sammenhang der Ausbreitung von Corona das Grundgesetz zum Ausgangspunkt vielfältiger Über- legungen und Gesetzesreformen. Fragen des Eigen- tums und die Bodenfrage wurden aus diesem Geist reformiert.

Was definiert das code-kritische Architektieren im Jahr 2038? Der Code „Bauen“ und der ökonomische Vorteil des eigenen Systems entscheiden nicht mehr über die Architektur. Architektieren reflektiert den eigenen Systemcode und die aller anderen in Wechsel- wirkung stehenden Umweltsysteme, versucht die di- versen Interessen und Codes in Reibung und damit in Verständnis zu bringen und vermeidet so bereits im Entwurf homogenisierende und hierarchisieren- de Entscheidungen. Das, was im 20. Jahrhundert tap- fere Ideologiekritik war, ist inzwischen um den sys- temtheoretischen, logisch-grammatikalischen Begriff des Code und der Codekritik ergänzt. Architekten sind heute verantwortlich für die grundsätzlich in Relation zu allen anderen Umweltsystemen stehenden Effekte ihrer Praxis. Die Effekte werden zu Bausteinen, der von ihnen zu schaffenden räumlichen Situation.

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HUNDERT JAHRE ARCHITEKTIEREN 1938-2038 was published first in print issue 120, "The New Serenity"



  • FOOTNOTES
    .
    [1] Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988, S.13 ff.
    [2] Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt 1987, s. 602 f.
    [3] Luhmann, Handbuch, Stuttgart 2012, S. 121 ff.
    [4] Aus der noch jungen Architektursoziologie entwickelte Martina Löw, wichtige Autoren wie Lefebvre, Bourdieu und andere zusam- menfassend, den Begriff des „Spacing“: „Räume sind stets neu zu konstituierende relationale (An) Ordnungen sozialer Güter und Lebewesen. Ihre Konstitution basiert auf zwei, in der Regel aufei- nander folgenden Prozessen der Syntheseleistung, also der Ver- knüpfung wahrgenommener oder vorgestellter sozialer Güter wie auch Lebewesen zu einem Ganzen, das sich als Raum formiert, und einer Platzierungspraxis jener Güter und Lebewesen, genannt Spacing“. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt 2001, S. 158 ff.
    [5] So wie etwa Valerio Olgiati in seiner Architektur und auch in seinen Ausführungen. Siehe Valerio Olgiati, Nicht-Referenzielle Archi- tektur, Zürich 2019
    [6] Akademiec/ozurRaumproduktionderBerlinerRepublik,n.b.k.- Neuer Berliner Kunstverein
    [7] Siehe Günter Bandmann, „Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger“, Berlin 1951; Martin Warnke, Bau und Überbau, Frankfurt 1976
    [8] DerPlatzdesHimmlischenFriedensistdastraurigeSymbolfür das Tian‘anmen-Massaker, der brutalen Niederschlagung der 89er Studentenproteste durch den chinesischen Staat, des Bauherrn des Nationalmuseum, mit je nach Quellenangabe bis zu 2600 Toten. 9 Baunetz,31.3.2011
    [10] Magnus Brechtken, Albert Speer – Eine Deutsche Karriere, Mün- chen 2017, S. 81 ff.
    [11] Siehe Deutscher Ethikrat, Pressemitteilung: Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, April 20
    [12] Siehe Tagesspiegel.de, 20.12.19; Berlin.de, Soziale Erhaltungsgebiete

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