vater er war die
lunge der hoffnung
auf einen zweiten
atem deutschland
– requiem für einen asbestarbeiter, Albert Ostermeier
Die 60. Venedig Biennale, die Adriano Pedrosa Foreigners Everywhere - Stranieri Ovunque nennt, ist keine Biennale des Zweifels. Mit ihr kehren wir zur Sicherheit der Strukturen vorbestimmter Subjektpositionen zurück, die wir im Liminalen aushebeln können. Nichts bleibt unklar. Jede Position wird von der kuratorischen Autorität in Essentialismus verankert: Die Fremden werden ausgezählt und durchdekliniert, ob sie wollen oder nicht. Unsere Positionen als Besucher*innen sind auch vordefiniert. Nur eine Gemeinschaft ist weder fremd noch markiert: die Italienische. Aber gerade das ist angesichts der jahrelangen Aufarbeitung einer italienischen Multiplizität so fremd. Pedrosas Ausstellung konstruiert eine Sicherheit, die keine Zwischenräume oder -positionen zulässt , auch wenn die Werke danach schreien. Stattdessen werden sie formal eingeteilt. Doch wir brauchen den Zweifel; denn nur als Neophyten sind wir Gemeinschaft. Nur aus der communitas können wir, kurz in Schwebe, aus der scheinbar unausweichlichen Bewegung in die eine oder andere Ordnung der Welt unsere Entscheidungen reflektieren.
Krisen sind Schwellen und Prozesse des Werdens. Geraten Gesellschaften ins Schwanken, entstehen Unklarheiten, Fragen und Zweifel: Menschen suchen Selbstgewissheit. Schwellenphasen sind Krisenzeiten und diejenigen, die sie durchschreiten, werden zu Neophyten und liminalen Wesen. Ihre Identität ist ambivalent, paradox und verwirrend. [1] Gesellschaften versuchen deswegen, die Grenzen und Übergänge zwischen den Ordnungen zu kontrollieren. Aber erst aus der Liminalität heraus entsteht die Suchbewegung zu neuen Positionen: „Es ist das Leben selbst, das die Übergänge von einer Gruppe zur anderen und von einer sozialen Situation zur anderen notwendig macht“. [2] Wir sollten diese Übergänge offenhalten, denn wir leben in Schwellenzeiten, in denen wir Orientierung brauchen. Damit wir nicht in die falsche Richtung schreiten, ist genaues Hinhören geboten.
fig. 1
Der Deutsche Pavillon, kuratiert in diesem Jahr von Çağla Ilk, ist ein Denkmal der modernen Krisen Deutschlands. Er ist der zweite Palast des Zweifels, der diesem Land und seiner Bevölkerung schwierige Fragen stellt [3]: Wer wart ihr? Wer werdet ihr sein? Woher kommt ihr? Wohin gehen wir? Diese Zweifel und das Misstrauen frisst sich seit Jahrzehnten durch sein Fundament. Durch den Nazi-Marmor, den Hans Haacke mit der Spitzhacke zerstörte, um am Schein der Nation zu kratzen. Noch tiefer in die Wände, die Böden und hinter den Anstrich ging Maria Eichhorn. Den Palast ganz nach Mestre zu verschiffen, um ihn endlich aus dem Blick zu haben, war dann doch zu teuer und wäre auch am Ziel vorbeigegangen: Der Pavillon muss bleiben, als Erinnerungsort, den es zu bearbeiten gilt.
Der Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner Ersan Mondtag schüttet die Schwelle im deutschen Palast des Zweifels zu, wirir schreiten nicht unter dem Schatten Germanias, sondern durch die Nebeneingänge. Tonnen von Erde aus Venedigversperren den Eingang, als wäre darin ein tiefes Grab in den Boden gehackt worden. Ein Teil der Erde stammt auch aus Anatolien; der Heimat von Mondtags Großvater Hasan Aygün, dem der Künstler ein Monument gebaut hat. Aber Aygün, der als Gastarbeiter 1968 aus Istanbul nach Berlin kam, und von 1969 bis 1996 für die Faserzement Firma Eternit in Berlin-Rudow arbeitete, steht für die „unbekannten Arbeiter“ mit denen er ein Schicksal teilt ein. Wie ein Schiffsbug ragt ein dreistöckiges, braun-bespritzes Haus in Richtung hinterer Wand des Pavillons – Richtung Lagune scheint es aufzubrechen. Wenn man ein zweites Mal die vermeidbaren Schlangen durchstanden hat, sind wir im Privatmuseum des kleinen Mannes, der auf einmal einen Namen hat. Auf verrutschtem Papier, in billigen Rahmen an der Wand, erzählt Mondtag seine Geschichte, wie das Skript zu einem Stück, in dem wir schon längst stehen. Ein langer Schaukasten authentifiziert die Geschichte: Arbeitsunterlagen, Geld, Ehrenurkunden, BVG-Ausweis. Dass ein weißer Mann diesen Großvater spielt, wirft uns zurück ins Theater, denn in der Fiktion ist anderes erlaubt.
fig. 2
Im Nebenraum dreht sich der türkische Sisyphus mit seiner Karre voller Dachschindeln im Kreis um die Wendeltreppe: die Arbeit, auf der das Leben steht. Ein Selbstporträt aus Staub. Der Arbeiter als tragischer Held. Nach der Arbeit das Essen, der Schlaf, dann der Fernseher. Die seltsame Symmetrie des Hauses, das wir seit Bert Neumann und dem Prater Zwölfspartenhaus kennen, verschwimmt in der verwinkelten Wohnung des unbekannten Arbeiters, durch den Frank Büttner (als Hasan Aygün), Marina Galic, Jonas Grundner-Culemann, Eva-Maria Keller und Tina Keserović das Leben der Familie vollziehen. Die staubige Enge, der Dreck, die Armut spielen sich zwischen den Besucher*innen ab; bei der Eröffnung schauen deutsche Politiker auf den langsamen, voraussehbaren Tod der Gastarbeiter*innen. Der Gastarbeiter*innen im Westen, aber auch der Deutschen, die in der DDR geboren wurden und als prekäre Arbeiterklasse in eine neue Welt kamen.
Auf dem Dach der Wohnung legt „er“ sich dann schlafen und die kleine Geschichte des Arbeiters mit verseuchter Lunge endet im Tod. Es ist ein Akt der Gewalt, der hier nachvollzogen wird; und das Stück selbst ist brutal und verletzend. Der nackte Mann zwängt sich durch die Besucher*innen, weil es das Script so verlangt, in ihm steckt eine tiefe Trauer, die beinahe den Blick nach draußen verschleiert. Durch den Tod auf der Empore in Venedig, tritt aber auch die Klarheit ein: hier durch den schmalen, horizontalen Fensterstreifen in die Lagune, in der so viele Tote vergraben sind. Mondtag inszeniert und der Tote steht wieder auf; das Leben des unbekannten und bekannten Arbeiters wiederholt sichwie die Schicksale von Tausenden. Aber erst aus dieser Perspektive des Ausblicks, die nicht nur in die Lagune, sondern auch auf Farwell (2024), dem 15-minütigen Film von Yael Bartana über die Endzeit und über Aufbruchsfantasien einer post-apokalyptischen Gesellschaft, eröffnet sich eine weitere Sinnebene, der ansonsten leicht misszuverstehenden Ausstellung.
fig. 3
Während Monument eines unbekannten Menschen die mikrogeschichtliche Zerstörung des einen kleinen migrierten Mannes bis ins feinstaubigste Detail eruiert, sind wir in Bartanas mehrteiliger Installation mit einer hochskalierten Flucht konfrontiert, die uns aktuell hart trifft. Dennoch gehen wir bei Bartana nicht in die gebückte Enge einer Biografie, sondern in die abstrakte und endlose Ferne einer neuen Gesellschaft. In den Nebenräumen des Pavillons fächert sie ihre jahrelange Auseinandersetzung mit kollektiven Ritualen und sozialen Bewegungen auf: Es geht um ein „Raumschiff für Juden, ein Israel im All, ein Rettungsboot vor einer nicht näher definierten Katastrophe“. [4] Riefenstahl und Feuerritual treffen israelische Sci-Fi Albträume. Light to the Nations – Generation Ship (2024) besteht aus einem 3D-Modell des Raumschiffs, retrofuturistisch inszeniert, beinahe lächerlich, benannt nach einer Passage aus dem Buch Jesaja; The Generation Ship Topography (2024) zieht anhand von Kreidezeichnungen die Zehn Sephiroth der Kabbala nach, während die Kunst- und Kulturhistorikerin Doreet LeVitte-Harten gegenüber auf einem kleinen Fernseher in einem Interview sachlich die Endzeitphantasie mit faschistischen Untertönen einer neuen Gesellschaft, in der Installation mystisch überhöht, zu erklären versucht. Ein Plakat zum Mitnehmen als Erinnerung an die utopischen Welten, die auf uns warten, sehen wir uns unter der Kuppelprojektion Life in the Generation Ship (2024) an und lassen uns wie in einem esoterischen Reisebüro der Zukunft von düsteren Erlösungsvorstellungen berieseln.
Man kann die radikale Abwendung von der planetaren Welt, welche die Generation Raumschiff zerstört und ohne Hoffnung auf Reparatur verlässt, als extreme Konterkarikatur des Denkmals im Zentrum des Pavillons verstehen. Sie dokumentiert und pre-enacted ohne Kommentar die technologische, megalomanische und weitverbreitete Fantasie der Kolonisierung des Weltalls, die zugleich Aufgabe der irreparabel-ruinierten Welt ist. Die verseuchten Asbest Lungen und die Gräber der unbekannten Arbeiter bleiben unter der Erde dieser Welt, die hier verlassen wird, um eine heile und neue Welt zu suchen. Das Ganze kommt bekannt vor (Dr. Strangelove lässt grüßen) und zeigt gewaltvoll die Kluft zwischen dem verdreckten Loch des Arbeiters, den wenigen Dokumenten seiner Existenz, der simplen Poesie, die seine Existenz greifen und dem hochglänzenden Eskapismus vor menschlicher Gewalt. Die Spannung zwischen den Installationen löst sich nicht auf, denn es gibt keine Auflösung dieser beiden Visionen vom Leben oder der Zukunft der Menschheit nach der Katastrophe. Man steht entweder, wie Walter Benjamin schrieb, vor dem Wasser und erkennt die Erlösung und das Menschliche in der Begegnung, die so klein und alltäglich sein kann, dass man sie kaum bemerkt – oder man geht immer weiter in die Ferne und gräbt immer tiefer, in der Hoffnung Sinn und Erlösung zu finden. [5] Wir befinden uns an der Schwelle und müssen die Entscheidung treffen, in welche Richtung wir gehen.
Cut. Blackout. Stille. Rauschen. Klirren. Man hätte hier (oder dort) anfangen können, denn der sehr sprichwörtliche Übergang vom Vaporetto zur Insel La Certosa ist selbstverständlich eine prekäre Schwelle, die wir überqueren müssen, um an Land zu gehen. Dass Louis Chude-Sokei mit seiner namensgebenden Klangintervention Thresholds, die ausgerechnet kurz vor der Eröffnungsfeier nicht mehr zu hören war, zum Verweilen einlädt, ist beinahe zu plakativ. Aber das Verweilen an der Schwelle lässt nach der Enge und der brutalen Intensität des Pavillons aufatmen. Wir kommen auf eine andere Struktur: Der Satellit La Certosa ist eine Flucht von der krassen Plastizität und Materialität des Pavillons in den Giardini. Kein Wunder, dass die Installationen Feld (2024) von Robert Lippok, Volumes Inverted (2024) von Jan St. Werner, Scattered by the trees (2024) von Michael Akstaller und Encuentros (2024) von Nicole L’Huillier, solch einen subtilen Kontrast bieten. Wir sind weder im Dreck der ruinierten Arbeiterwohnung, noch in den sauberen Fantasien einer Weltall-Zukunft, sondern zwischen Bootswerft und Wasser, Ziegelsteinen und Pflanzen, der spärlichen Vegetation der Laguneninseln. Für Michael Akstaller sind die Bäume und die Natur der Resonanzraum,, dem wir zuhören müssen und der zur Ruhe kommen lässt. Wie auch die Erde unter unseren Füßen, die an anderer Stelle durch Subwoofer an die Oberfläche drängen. L’Huillier überträgt diese Frage des umweltlichen Resonanzraumes auf die Ebene der Übersetzung: Inwiefern lässt sich eine Insel hören und der Wind und mit ihr im Dialog aktivieren? Ein Experiment, das auch Jan St. Werner aufnimmt – durch das Echo eines Schallstrahls, der drehend nach Klang sucht und akustische Interferenzen auffängt.
La Certosa wirkt wie eine Pause vom Wahnsinn und zur Polarisierung zur Welt im Pavillon. Als wären wir in der Schwebe; der Schwelle, die vom Deck des dreckigen Raumschiffes von Mondtag in der Lagune sichtbar wird. Ein Zwischenmoment, der innehalten lässt. Distanz zur planetaren und zwischenmenschlichen Gewalt, die uns an beiden Enden der Schwelle im Pavillon erwartet. Vielleicht ist der Insel Satellit bewusst als Fußnote gedacht, der auch an den beängstigenden und brutalen Fantasien (oder eher Realitäten?) in den Giardini zweifeln lässt. Wir stehen auf La Certosa und zweifeln an dem, was wir Menschen für uns Menschen gestaltet haben. Weiter nördlich, vor den Mosaiken der Santa Maria Assunta auf der Insel Torcello, können wir daran erinnert werden, dass wir das nicht zum ersten oder zum letzten Mal tun.
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- Thresholds
April 20–November 24, 2024
Commissioner: Ellen Strittmatter (ifa – Institut für Auslandsbeziehungen)
Curator: Çağla Ilk
Artists
Giardini della Biennale: Yael Bartana, Ersan Mondtag
La Certosa: Michael Akstaller, Nicole L’Huillier, Robert Lippok, Jan St. Werner
Opening hours
Summer: 11am–7pm
Autumn: 10am–6pm
Mondays closed except for April 22, June 17, July 22, September 2, September 30, November 18, 2024
La Certosa is publicly accessible at any time. The installations at La Certosa run during the opening hours of the Giardini della Biennale.
Footnotes:
[1] Victor Turner. 1967. The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual. Ithaca, London: Cornell University Press.
[2] Arnold van Gennep. 1986 [1909]. Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt am Main: Campus, S. 21.
[3] Jonas Tinius. 2021. Il palazzo dell dubbio. Art e Dossier. 390 (September): 38–43.
[4] Jörg Häntzschel. 2024. Wir Heimatlosen. Süddeutsche Zeitung, 17 April 2024. https://www.sueddeutsche.de/kultur/kunstbiennale-venedig-la-biennale-venedig-ersan-mondtag-yael-bartana-1.6560354?reduced=true
[5] Cohen et al. Eds. 2024. Existential Present. The Moment as a Threshold to Humanity, in: Universalism(e). Conversations. Berlin, Boston: de Gruyter.
Image credits:
Cover, fig. 1, fig. 2: Ersan Mondtag, Monument eines unbekannten Menschen (2024). Photo: Jonas Tinius.
fig. 3: Yael Bartana, Light to the Nations - Generation Ship (2024), 3D model. Architect: Assaf Kimmel. Fabrication: Saygel, Schreiber & Gioberti. Photo: Jonas Tinius.