Wie verarbeitet eine junge Künstler*innengeneration ihr gewichtiges kulturelles Erbe, das von ästhetischen und sozialen „Standards“, Werten, Vorbildern, Ikonen und Erwartungen an die künstlerische Rolle geprägt ist? Wie bauen sie auf Ruinen der Vergangenheit auf, die noch immer lange Schatten werfen? Monia Ben Hamouda, zum Beispiel, die den Vordemberge-Gildewart Award anlässlich der Ausstellung RENAISSANCE bekam, entfaltet auf Anhieb eine sinnliche Kraft beim antworten dieser Fragen.
Die Monumentalität ihrer zugleich fragilen Installation aus Eisenskulpturen, die über einen Gewürzteppich schweben, erinnert an den Gedanken des Philosophen Giorgio Agamben: Monumente sind nicht unbedingt statisch, sondern etwas, das sich mit der Zeit verändert. Hamouda, sowie die 14 weitere Künstler*innen der Ausstellung, hinterfragt westliche Kriterien sowie den kommerziellen Überfluss in der Kunst. Zugleich sind alle Arbeiten in RENAISSANCE eine Hommage an traditionellen Praxen, die Zwiegespräche zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf erfrischende und doch herausfordernde Art und Weise weiterführen.
Leonie Radine erzählt AWC in einem Gespräch über ihre kuratorische Perspektive auf die ausgewählte Werke, sowie die institutionelle Implikationen bei der Realisierung so einer Gruppenausstellung.
Ich habe den Ausstellungskatalog in meiner Hand und frage mich, ob Da Vincis Chiaroscuro bei der Konzeption eingeflossen ist. Das Verwischen der Grenze von Figuren, ein Spiel mit Licht und Schatten.
Renaissance-Malerei wird man in der Ausstellung nicht finden, aber das Spiel von Licht und Schatten auf dem Cover ist auf jeden Fall ein wichtiges Element in der Gestaltung des Mailänder Designstudios (ab)Normal – sowohl in der Publikation als auch in der Ausstellungsarchitektur.
Die Vorhänge sind nicht unbedingt aus Samt, dem Material, aus dem der bürgerliche Traum der Renaissance gemacht ist, sondern aus einem härteren, raueren Stoff. Was ist das überhaupt?
(ab)Normal verwendete für die Vorhänge ein spannendes und nachhaltiges Material, das geschmeidig und widerständig zugleich ist. Es ist ein recycelbarer Stoff, der eigentlich als Verpackungsmaterial verwendet wird und den wir im Museum dann wiederverwenden. Damit haben sie zwischen den 15 künstlerischen Positionen einen fluiden Ausstellungsparcours kreiert.
Fig. 1
Es erinnert nicht nur an die Hintergründe von Gemälden aus der Spätrenaissance, sondern auch an ein Fotostudio. Es hat etwas sehr Gegenwärtiges, auch in Bezug auf Nachhaltigkeit, wie durch die bewusste Auswahl von Materialien. Aber auch zu einer bewussten Selbstdarstellung der Künstler*innen. Was haben die Ausstellung und der historische Renaissance-Begriff sonst gemeinsam?
Der Titel "RENAISSANCE" ist vor allem ein Wortspiel mit verschiedenen Assoziationen und Bedeutungen. Der Begriff ist offenkundig mit einem gewichtigen kulturellen Erbe verbunden, das noch immer lange Schatten wirft. Dieser Titel kann aber auch im Sinne der Wiedergeburt gedeutet werden, denn in der Ausstellung geht es vor allem um eine regenerative Praxis von Künstler*innen, die aus Ruinen, Verlorenem, Verworfenen und Abfall durch ihre kritische Auseinandersetzung und Umwertung etwas Neues schaffen. Und so wird dieser Begriff der Renaissance hier auch selbst zum Gegenstand einer Neudefinition. Es geht in dieser Ausstellung nicht um die Ära der Renaissance oder die Rekonstruktion klassischer Mythologien. Wir leben in einer Zeit, in der Wiederverwertung eine neue wichtige Rolle für eine kritische Praxis spielt. Hinter uns liegt nicht nur die Ära der Renaissance mit ihrem Bezug auf antike Werte und Formen, sondern auch die moderne Idee des Fortschritts und die postmoderne Dekonstruktion. Heute sind wir nun viel damit beschäftigt, Geschichte durch eine Linse der Gegenwart zu betrachten und im Hinblick auf alternative Zukünfte neu zu schreiben. Dieses eher zirkuläre und nicht-lineare Verständnis von Zeit liegt also auch im Begriff Renaissance. Das Ausstellungsdesign von (ab)Normal knüpft daher visuell und ästhetisch nicht nur an das Licht- und Schattenspiel in der Renaissance, sondern auch in der gegenwärtigen Kreativindustrie an. Ihr Vorschlag, die Werke einer jungen Generation im Spotlight vor monumentalen Hintergründen zu inszenieren, führte zu einer spannenden Entwicklung in unserem Austauschprozess.
Fig. 2
Diese Auseinandersetzung mit Monumentalität scheint entscheidend zu sein, insbesondere für Künstler*innen, die einen analytischen Scheinwerfer auf Generationenkonflikte richten und Geschichten aus der eigenen Dissoziation mit derselben behandeln.
Ja, bei der Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen kulturellen Erbes geht es auch um die Schatten einer gewissen Monumentalität, aus der eine jüngere Generation heraustritt oder auf die sie neue Schlaglichter wirft. Im Austausch mit den Künstler*innen traten immer wieder ästhetische und soziale Standards in den Fokus ihrer kritischen Praxis. Einige beschäftigen sich zum Beispiel mit patriarchalen Strukturen, die auch in der Gegenwart noch bestehen, indem sie Genderstereotype und Rollenbilder kritisch hinterfragen – etwa durch die bewusste Anwendung von Imperfektion als Methode, um zu zeigen, dass das, was in der Werbung oder in popkulturellen Formaten suggeriert wird, mit der Realität wenig zu tun hat.
An wen denkst du zuerst?
An Lorenza Longhi. Ihre Collagen von Bildern aus der Konsumkultur, die sie alle mit der provokativen Überschrift “Still, The Standard." versehen hat, halten der Scheinrealität in Luxusmarken-Werbebildern den Zerrspiegel vor. Ich denke auch an Giorgia Garzilli, die in ihren Gemälden popkulturelle Referenzen aufnimmt, aber durch verschiedene historisierende ästhetische Filter eine Distanz schafft. Sie legt beispielsweise einen Sepiaschleier über nachgemalte Szenen aus Hollywoodfilmen und TV-Serien. Auch Ali Paloma möchte sich mit ihrem Werk aus patriarchalen Ketten befreien und arbeitet sehr symbolisch, ihr Werk ist buchstäblich ein Dorn im Auge des Patriarchats. Genderstereotype finden in vielen Werken einen Nachhall und werden kritisch bewertet. Aber ebenso geht es in der Ausstellung um die Auseinandersetzung mit Ritualen, Familien- und Migrationsgeschichten.
Fig. 3
Kulturelles Erbe ist eben nicht nur traditionelles Handwerk.
Kulturelles Erbe ist nicht in Stein gemeißelt. Es wird von den Künstler*innen im Prozess begriffen und aus individuellen als auch kollektiven Perspektiven neu interpretiert. Das ist ein wichtiger Aspekt dieser Ausstellung. Von der Stiftung Vordemberge-Gildewart wurden wir gebeten, mit Künstler*innen aus der Region zu arbeiten, im Alter von bis zu 35 Jahren. Diese Prämisse führte zu kuratorischen Überlegungen darüber, was es bedeutet, aus einer Region zu kommen und Fragen der Zugehörigkeit zu thematisieren. Dabei entstand eine Ausstellung mit 15 Künstler*innen, die eine Verbindung zu Norditalien haben, ob sie hier geboren sind, studiert haben oder leben, von denen aber auch viele einen transnationalen Hintergrund haben.
Umweltschutz ist sehr prägnant in der Auseinandersetzung mit vielen lokalen Künstler*innen der Region in Südtirol und Norditalien. Vielleicht könnten wir gemeinsam über zwei Werke sprechen, wo Wiedergeburt (Renaissance) eine Verbindung zu Fragen von Nachhaltigkeit hat, wie beispielsweise bei Filippo Contatore und Isabella Costabile. So unterschiedlich wie sie sein mögen.
Themen der Nachhaltigkeit sind für diese Generation und auch für das Museion sehr wichtig. Im Werk von Isabella Costabile spiegelt sich diese Haltung zum Beispiel auf besonders poetische Weise wider: Sie arbeitet mit weggeworfenen Gegenständen, die keine Funktion mehr haben, die sie etwa auf Dachböden oder in Garagen findet oder die an Stränden angespült wurden. In neuen Kombinationen und teils bemalten Assemblagen verleiht sie diesen Dingen einen neuen Wert, neue Form und Persönlichkeit. Isabella ist in New York geboren, in Jamaika aufgewachsen, hat in Mailand studiert und lebt heute zwischen Grosseto und Mailand. Diese verschiedenen kulturellen Einflüsse bringt sie in ihr Verständnis von Skulptur ein. Ihre Arbeit mag an Vorläufer in der westlichen Kunstgeschichte wie Isa Genzken oder Robert Rauschenberg erinnern, aber auch an eine in der Karibik weit verbreitete skulpturale Praxis. Ihre teils ganz feingliedrigen und fragilen, teils industriell und robust anmutenden Skulpturen schöpfen aus der Poetik des Alltags und übertragen Gedanken und Geschichten der Vielfalt.
Fig. 4
Filippo Contatore nähert sich mit seiner Videoinstallation auf sanfte Weise dem eher mit einer gewissen Härte verbundenen traditionellen Schmiedehandwerk. Für seine skulpturale Videoinstallation reaktivierte er die mittlerweile stillgelegte Werkstatt des bereits verstorbenen Bozner Schmieds und Künstlers Franz Messner. Sein poetischer Film zeigt ihn bei der Aneignung von Gesten und der sowohl robusten, kräftefordernden wie sensiblen, feingliedrigen Arbeit mit Metall. Im Zusammenspiel mit einer von ihm aus vorgefundenem Restmetall gefertigten verschnörkelten Gitterstruktur reflektiert er verschiedene mit Geschlechterrollen, Ein- und Ausschluss verbundene Aspekte des Handwerks und seiner Anwendungsbereiche.
Wie kann man* sich gegenseitig stützen, an der Grenzerweiterung des Sagbaren, des Machbaren in der Kunst? Raphael Pohls Arbeit eröffnet den Raum für diese Fragestellung, indem er auf verschiedenen Ebenen kulturellen Erbes reflektiert und zeigt, dass die Antwort nicht nur in der künstlerischen Praxis liegt, sondern auch in unserem Umgang mit gesellschaftlichen Habitus und Wandel.
Raphael Pohls Arbeit besteht aus verschiedenen Objekten, die ihm nicht gehören, sondern geliehen sind. Er bringt diese Objekte in Dialog mit einem Film, der die Arbeit eines georgischen Bäckers zeigt, der täglich Brote für die Leute in Batumi backt. Raphael, geboren und aufgewachsen in Bozen, lebt in Wien und verbringt viel Zeit in Georgien, wo er immer wieder Alltagsrituale aus verschiedenen Perspektiven aufspürt. In 13 Filmminuten backt der Bäcker 36 Brote, die ofenfrisch gleich ihre Abnehmer finden. Die Übertragung der Szenen in einer kleinen Straßenbäckerei auf einem LED-Bildschirm, wie sie normalerweise in Fußballstadien oder großen Einkaufszentren zu sehen sind, zeigt den Kontrast verschiedener Ökonomien auf. Auch die Anordnung weiterer Objekte im Raum, die unter anderem aus einem Wiener Kiosk geliehen sind, regt zum Nachdenken über unterschiedliche Formen des Zählens, Ein- und Verteilens an.
Fig. 5
Diese poetischen, ökonomischen Beziehungen führen zurück zur Arbeit von Giorgia Garzilli, wo Poetik in transdisziplinärer Form stattfindet und italienische Identität in surreale Szenen gebracht wird.
Giorgia Garzilli spielt stark mit überregionalen popkulturellen Bildern. Egal, ob man in Italien oder anderswo aufgewachsen ist, spiegelt sie mögliche Einflüsse von Szenen des Hollywood-Kinos, wie aus dem Filmklassiker Blues Brothers, wobei sie hierbei zum Beispiel die aus der Froschperspektive aufgenommenen Schritte dreier Männer im Gefängnis malerisch in eine gegenwärtige Szenerie übersetzt, die eher an Banker in einem Unternehmen erinnert. Hier zeigt sich eine neue Form des Camp, mit einer historischen Distanz.
Fig. 6
Ich möchte zuletzt etwas über die Preisvergabe des Vordemberge-Gildewart-Stipendiums wissen. Wie funktioniert sie in eurem Kontext?
Die Stiftung sprach das Museion an, um das Stipendium zum ersten Mal in Italien zu vergeben. Sie haben in der Vergangenheit mit verschiedenen Institutionen in Europa gearbeitet und immer galt es dabei, eine Ausstellung mit Künstler*innen aus der jeweiligen Region im Alter von bis zu 35 Jahren zu realisieren. Von dieser Prämisse ausgehend, und der Begriff "Region" ist vielseitig interpretierbar, lag der Recherchefokus auf Positionen in oder aus Norditalien, vor allem Südtirol und Mailand. Am Tag der Eröffnung hat eine unabhängige internationale Jury die Auswahl getroffen und am selben Abend ihre Entscheidung verkündet und Monia Ben Hamouda das Stipendium verliehen. Neben dieser Auszeichnung durch die Stiftung Vordemberge-Gildewart werden in den nächsten Monaten auch noch weitere Preise aus der Ausstellung vergeben: das ist zum einen ein Publikumspreis, und ferner ein Preis der Museion Private Founders. Beide sind mit Ankäufen verbunden, die jeweils die Sammlung des Museion erweitern.
Wie siehst du deren Rolle im Vergleich zu anderen Kunststiftungen und zur Entwicklung der Karriere junger Künstler*innen?
Es ist einer der höchstdotierten Preise für junge Kunst in Europa, also wirklich außergewöhnlich. Zudem ist der Preis mit keinerlei Bedingungen verbunden. Es geht nicht darum, 60.000 Schweizer Franken zu vergeben, um dann ein Werk für die Stiftung zu produzieren oder Ähnliches, sondern allein um die finanzielle Unterstützung des künstlerischen Lebens und Schaffens.
Wie frei warst du als Kuratorin bei der Gestaltung von "RENAISSANCE" am Ende?
Mir wurde großes Vertrauen entgegengebracht. Insofern war das auch eine hervorragende Möglichkeit, unsere institutionellen Ziele zu verwirklichen: insbesondere die Unterstützung junger Künstler*innen, ob aus der Region oder international, begreifen wir als eine der wichtigsten Aufgaben im Museion. Mit der Stiftung Vordemberge-Gildewart haben wir einen beispielhaften Partner für privates Engagement für die Kunst gefunden, der uns viel Raum für kuratorische Entscheidungen und den unmittelbaren Austausch mit den Künstler*innen für die Umsetzung und Konzeptualisierung einer Ausstellung gelassen hat. Diese Freiheit wusste ich sehr zu schätzen.
Fig. 7
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Das Interview wurde von María Inés Plaza Lazo geführt und Noa Jaari editiert.
RENAISSANCE
23.03.—01.09.2024
Mit AliPaloma, Monia Ben Hamouda, Costanza Candeloro, Filippo Contatore, Isabella Costabile, Binta Diaw, Giorgia Garzilli, Sophie Lazari, Lorenza Longhi, Magdalena Mitterhofer, Jim C. Nedd, Luca Piscopo, Raphael Pohl, Davide Stucchi und Tobias Tavella.
At Museion, Bolzano
Images
Cover: Monia Ben Hamouda, Resisting (Aniconism as Figuration Urgency), 2023, About Telepathy and other Violences II (Aniconism as Figuration Urgency), 2023, About Telepathy and other Violences (Aniconism as Figuration Urgency), 2023, Lasergeschnittenes Eisen, Gewürzpulver Courtesy of the artist and ChertLüdde, Berlin, Photo credits: Luca Guadagnini
Fig. 1 - Sophie Lazari, exhibition view RENAISSANCE, 2024, Museion. Photo: Luca Guadagnini
Fig. 2 - Lorenza Longhi, exhibition view RENAISSANCE, 2024, Museion. Photo: Luca Guadagnini
Fig. 3 - Davide Stucchi, exhibition view RENAISSANCE, 2024, Museion. Photo: Luca Guadagnini
Fig. 4 - Isabella Costabile, exhibition view RENAISSANCE, 2024, Museion. Photo: Luca Guadagnini
Fig. 5 - Raphael Pohl, exhibition view RENAISSANCE, 2024, Museion. Photo: Luca Guadagnini
Fig. 6 - Giorgia Garzilli, exhibition view RENAISSANCE, 2024, Museion. Photo: Luca Guadagnini
Fig. 7 - Binta Diaw, exhibition view RENAISSANCE, 2024, Museion. Photo: Luca Guadagnini