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Spektrale Heimsuchungen im Museum

Die Akkumulation des Anderen als Topographie der Nekropolitik.

  • May 19 2025
  • Jayanthan Sriram
    ist Doktorand an der Concordia University, Montreal Kanada und Redakteur beim Sonnendeck Magazin Stuttgart. Als Mitglied des Centre for Sensory Studies, Vertreter der Olfactory Studies und Sohn tamilischer Kriegsflüchtlinge arbeitet Jayanthan an der Intersektion der Sinne und nekropolitischer Strukturen und entwirft eine Aisthetik des Ephemeren.

In Anlehnung an theoretischer Praxen der Dekolonisierung fragt Jayanthan Sriram nach der Möglichkeit eines musealen Ortes, der dem Erbe der Sklaverei gerecht wird. Sein Text folgt den spektralen Spuren dieser Geschichte – und den Rissen, die sie im westlichen Ausstellungsraum hinterlässt.

1. Das Anti-Museum

In weniger als drei Seiten entwirft der politische Philosoph Achille Mbembe in seinem wegweisenden Werk Necropolitics die Figur des Anti-Museums. Er beschreibt dieses als eine Antwort auf die Tatsache, dass die Einbindung des transatlantischen Sklavenhandels ins Museum „unerwünscht“ sei – und dort, wo sie stattfindet, meist ohne Aussagekraft bleibt (1). Im Einklang mit den meisten Afro-dekolonialen Ansätzen versteht Mbembe den atlantischen Sklavenkomplex – weit mehr als bloß einen Handel – als konstitutiv für den modernen Kapitalismus. 

Im europäischen Westen, wo die Geschichtsschreibung die Linie vom Mittelalter zur Aufklärung gerne als Zivilisierungsprozess inszeniert, wird Sklaverei häufig auf Plantagenbilder aus Amerika oder vermeintliche Irrtümer „anderswo“ reduziert – Fehler von Männern, die fern jener standen, die als Träger humanistischer Ideale das „Sapere aude!“ in die Welt trugen. Dabei ist nicht zu übersehen: Der moderne Kapitalismus ist untrennbar verbunden mit Zucker, Tabak und Baumwolle – scheinbar harmlose, gar genüssliche Güter, ermöglicht durch den Dreieckshandel. Dieser Handel beruhte auf der vollständigen ökonomischen, körperlichen und geistigen Verwertung versklavter Schwarzer Menschen (2). Die Versklavung bedeutete eine gewaltsame Entfernung vom afrikanischen Kontinent, gefolgt von Misshandlungen, Vergewaltigungen und der totalen Unterordnung in allen gesellschaftlichen Strukturen – als Voraussetzung sowohl für die Kapitalakkumulation wie für die intellektuelle Selbstvergewisserung des Westens (3).

In diesem Kontext erscheint der Sklave als ein „Zahnrad in einem planetarischen Prozess der Akkumulation“. Würde diese Figur ins Museum eintreten, so Mbembe, müsste das Museum selbst aufhören zu existieren – und sich in etwas radikal Anderes verwandeln. Denn das Museum, so seine These, war historisch nie ein „vorbehaltloser Ort der Rezeption der Menschlichkeit in ihrer Vielfalt“ (4), sondern vielmehr ein Ort, an dem die Verletzung des Anderen – des nicht-westlichen, marginalisierten Subjekts oder Objekts – durch die Klassifizierung und Ausstellung seiner Körper und Kulturen reproduziert wird.

Zwei Logiken bestimmen dabei das museale Verhältnis zum Anderen: Trennung und Zuweisung. Sie schaffen Hierarchien von Menschsein, Zivilisation und gesellschaftlicher Zugehörigkeit (5). Im Fall des Sklaven wird durch die museale Zur-Schau-Stellung „der Geist der Apartheid doppelt geheiligt“, der sich auf einen „Kult der Differenz, der Hierarchie und der Ungleichheit“ stützt (6). Die Darstellung des Sklavenhandels bleibt so unfähig, über die Logik der Trennung hinauszugelangen – sie reproduziert sie vielmehr. Diese Unfähigkeit liegt in der musealen Praxis selbst begründet, die Objekte ihrer „Atemkraft“(7) beraubt, sie neutralisiert und domestiziert, sie zu lebloser Materie macht (8). Doch die Sklaverei trägt eine „Macht des Skandalösen“ in sich – eine Kraft, die der Neutralisierung entzogen bleiben muss, damit der Sklave als Figur aufrührerische Macht behält: das Potenzial, zu schockieren, zu verstören und damit eine Systemveränderung zu initiieren. Um diese transformative Dimension der Geschichte und ihrer Nachwirkungen zu bewahren, muss die Institution des Anti-Museums etabliert werden (9).

Für Mbembe ist das Anti-Museum keine Institution im klassischen Sinne, sondern die Figur eines anderen Ortes – ein Raum „radikaler Gastlichkeit“ (10). Diese Gastlichkeit – verstanden als Zuflucht – gilt den „Ausgestoßenen der Menschheit“, den Zeugen des Opfersystems der Moderne (11). Sie kann nur entstehen, wenn der Sklave das Museum heimsucht: in einerspektrale Dimension, „überall und nirgendwo“ zugleich ist, in einem Akt des Einbrechens und Eindringens (12). 

Über die Poetik von Mbembes Konzept des Anti-Museums hinaus, die notwendig ist, um mit dem „abscheulichen Ereignis des Sklavenhandels“ umzugehen und uns davor zu bewahren, „einfache Schlussfolgerungen“ aus der Darstellung der Sklaverei zu ziehen, interessiere ich mich für genau diese Vorstellung des Spektralen. Sie ermöglicht eine Transformation des Museums bis zu seiner Auflösung. Das Museum, das unter der materiellen Logik der Akkumulation und der Darstellung von Kulturen und Artefakten etabliert wurde, benötigt eine spektrale Heimsuchung, um seine Existenz und Praxis zu begleiten. 

Diese Spektralität kann vielfältig sein, und dieser Essay wird drei miteinander verbundene Wege verfolgen: (1) das Ringen mit der Schattenseite der übermäßigen und ideologischen Akkumulation, während das Museum über das Archiv hinaus denken muss, unter destruktiven Logiken der Differenzierung und des Konsums; durch (2) ein tiefes Verständnis der Rassifizierung in den Projekten der Moderne und Museologie; und (3) das Vorschlagen einer sensorischen Praxis, die durch neuen Materialismus und Atmosphären gestaltet wird, um eine Art des „Einbrechens und Eindringens“ und eine aisthetische Beziehung mit der Welt voranzutreiben (13).

2. Nekrokapitalismus

Karl Marx griff die uralte Vorstellung auf, dass Geld nie rein sein könne, als er schrieb, das Kapital sei von „Kopf bis Fuß“ mit Blut befleckt und tropfe aus allen Poren vor „Blut und Schmutz“ (14). Subhabrata Banerjee aktualisiert diese Einsicht in seiner Analyse des zeitgenössischen Wirtschaftssystems, das er als Nekrokapitalismus beschreibt – ein System, dessen Grundstruktur auf „Akkumulation durch Enteignung“ und die „Erzeugung von Todeswelten“ in kolonialen Kontexten beruht (15).

Der Begriff aktualisiert Cedric Robinsons Konzept eines rassistischen Kapitalismus: Kapitalismus differenziert systematisch entlang rassifizierter Linien, um die Ausbeutung über eine dialektische Konstruktion von Differenz zu ermöglichen (16). Diese Prozesse – Enteignung, Trennung, Ausbeutung – werden durch Staaten oder transnationale Konzerne vollzogen, etwa durch die Privatisierung von Land oder den Entzug der Kontrolle über natürliche Ressourcen, insbesondere von indigenen Bevölkerungen. Es entsteht ein Kapitalozän, das sich auf Tod, Folter, Selbstmord, Sklaverei und die Zerstörung von Lebensgrundlagen stützt (17).

Solche Beschreibungen mögen Assoziationen an historische Filme wachrufen: koloniale Gewalt in Tropenanzügen, Elfenbeinjäger mit Gewehren, die auf Menschen mit Stöcken und Steinen zielen. Doch der heutige Imperialismus tarnt sich – er operiert durch private Militärfirmen ebenso wie durch Anwaltskanzleien und “human resources” Personalabteilungen. Alle verwalten Gewalt – jede auf ihre Weise (18).

Mit dem Präfix necro verschiebt sich der Blick von der bloßen Enteignung hin zu einer Dimension, die über den Tod hinausreicht. Anders als Thanatos, das den Tod als Abschluss begreift, verweist Necros auf einen Zustand, in dem das Leben selbst unlebbar geworden ist (19). Leben wird zur Form des Todes, wenn Gegenwart unerträglich wird und die Grenze zwischen Leben und Tod verschwimmt (20).

Norman Ajari erweitert ein normatives Verstaendnis von rassistischer Entmenschlichung im Nationalsozialismus durch den atlantischen Sklavenhandel:, indem er die rassistische Entmenschlichung im Nationalsozialismus dem atlantischen Sklavenhandel : Während ersterer auf Auslöschung zielte, bestand das „necro“-Moment der Versklavung in der systematischen Entwürdigung von Leben (21). Die Einführung des Todes als Lebensform verschiebt damit auch Foucaults Begriff der Biopolitik: Nicht das Leben wird reguliert, sondern die Sterblichkeit.

So wie die Moderne vorgibt, Austausch zwischen rationalen Subjekten zum Wohle aller zu ermöglichen, suggeriert der Markt eine universelle Teilhabe. Doch die Realität der Akkumulation operiert über die Instrumentalisierung und Degradierung von Körpern (22). Eine Spaltung zieht sich durch die Struktur: Das Sterben einiger sichert das Leben anderer (23). Souveränität erscheint als Macht, über den Wert des Lebens zu entscheiden – und über Ausnahmen zur Regel (24). 

Sowohl der Humanismus als auch der Kapitalismus haben diese Macht verinnerlicht. Beide sind fähig, „Todeswelten“ zu erzeugen – Zustände permanenten Sterbens für jene, deren Körper von der Norm abweichen (25). Auch wenn sich die Kritik häufig auf koloniale Konstellationen konzentriert, wirken deren Werkzeuge fort: Enteignung, Diskriminierung und die Konstruktion rassifizierter Ausnahmen als Grundlage staatlicher Ordnung (26).

Die Kobaltminen im Kongo sind ein drastisches Beispiel (27). Doch auch die Lebensrealität migrantischer Arbeitskräfte in Niedriglohnsektoren zeugt von einer Spaltung in Lebens- und Todesweisen: eine endlose Serie von Rückschlägen, Einschränkungen, Gewaltakten, die rassifizierte Existenzen nekrotisieren und den Glauben an die Welt untergraben (28) – ein Zustand, den Achille Mbembe als „Planetarisierung der Apartheid“ beschreibt, in dem Grenzen zur zentralen Technologie demokratischer Ordnung werden.

Banerjee spricht vom „Schwert des Handels“, das die rohe Gewalt früherer Kolonialmächte ersetzt hat (29). Es verwaltet globale Gewalt, während es ein „geschäftsfreundliches Klima“ (30) simuliert. Doch die Logik bleibt dieselbe: (1) Raumeroberung, (2) Umformung des Denkens, (3) Eingliederung lokaler Ökonomien in westliche Schemata.

Das Museum – scheinbar neutrale Institution des Humanismus und der kulturellen Bildung – bleibt tief in diese Logik verstrickt. Es profitiert von „Raumdominanz” und kognitiver Umformung, selbst wenn es heute versucht, sich kritisch zu reflektieren (31). Mbembe spricht von Neutralisierung und Domestizierung, die auch in musealen Praktiken wirksam bleiben: in der disziplinierenden Macht, den Wert und die Darstellungsweisen von Objekten zu bestimmen (32). Diese Macht entscheidet, ob ein Artefakt als Hochkunst gewürdigt oder als anthropologische Kuriosität klassifiziert wird. Dies umfasst ihren Status als Hochkunst oder ihre Verbannung in anthropologische Systeme als Teil „fremder” oder „alter” Kulturen. Wenn man die heutigen Bewusstseinsmodi einbezieht, beispielsweise in Versuchen, die Rückgabe kolonialer Artefakte zu ermöglichen oder die Durchführung von Ritualen mit zuvor gestohlenen Gütern zu erlauben, um ihren „Atem” lebendig zu halten (33), ist das Museum nicht mehr der hochgesinnte Tempel des Diebstahls und der strikten Neutralisierung. Dennoch können seine Praktiken und die Ansammlung von Kunst nicht der historischen Interdependenz von Kolonisation und der Schaffung europäischer Souveränität entkommen. Die Beschäftigung mit dem Museum und seinen kuratorischen Praktiken führt unvermeidlich zu Zuständen der Ausnahme, die binäre Strukturen reproduzieren. Beispielsweise geschieht der kunsthistorische Diskurs über Renaissancegemälde unter den Vorzeichen einer Fortschrittslinie, afrikanischen Artefakten jedoch gelten als eingefrorene Objekte zeitloser oder eher unterentwickelter Völker. Auch wenn Formen des Todes auf den ersten Blick fern des Museums erscheinen mögen, schafft jede westliche Institution einen epistemologischen Raum, der direkt von kolonialen Kontrollmodi profitiert. Das Museum ist kein neutraler Ort – es ist ein Knotenpunkt im Gewebe nekrokapitalistischer Gewalt (34).


3. Eintritt ins Museum

Wenn ich – geboren als PoC (Person of Color) Cis-Mann in Deutschland, Sohn tamilischer Kriegsflüchtlinge und gebildet in allen Belangen von Kultur, Kunst und Gesellschaft – ein Museum in Deutschland betrete, ereignen sich zwei Dinge gleichzeitig. Ich bemerke die wachsamen Augen der Saalaufsichten oder des kuratorischen Personals. Während ich den Raum durchstreife – sind sie bereit, meine undisziplinierte Haut zu disziplinieren. Sie strahlt die Gefahr aus, ein Objekt zu berühren oder sich in diesen ehrwürdigen Hallen falsch zu verhalten. 

Wenn diese Saalaufsichten selbst PoCs sind oder wenn das Wartungspersonal (ebenfalls normalerweise PoC) mich bemerkt, gibt es ein Gefühl von Überraschung, Erleichterung und Vertrautheit. Nicht selten wird ein Nicken ausgetauscht, das meine Anwesenheit als „Praktizierender der Hochkultur” anerkennt, gemischt mit der Freude, dass einige von uns „Verdammten” nicht reinigen oder endlose Stunden stehen müssen, um in diese Erde zu durchwandern.

Auch wenn die Verbindung zwischen Nekrokapitalismus und der Logik der Akkumulation zunächst fern erscheint von der Vorstellung eines Anti-Museums oder einer spektralen Heimsuchung, so wirkt die Anekdote meines Eintritts doch als erste Erfahrung einer quälenden Spektralität. Nekrokapitalismus operiert durch die Schaffung getrennter Sphären. Ebenso etabliert das Museum einen Raum politischer und intellektueller Souveränität – und eine Gegensphäre, in der Formen der Herrschaft, Ausbeutung und Gewalt wirken.

Diese erscheinen als spektrale Dimensionen, welche das Museum – wie Achille Mbembe argumentiert – unfähig machen, die Realität der Sklaverei zu beherbergen (35).

Während der transatlantische Sklavenkomplex womöglich nie vollständig ins Museum eintreten kann – und eine solche Konfrontation die Institution in ihren Grundfesten erschüttern würde – überschreiten migrantische Körper und Körper von PoCs diese Räume als „imperiale Ausnahmen“ inmitten der geordneten Reinheit eines (necro-)konsumistischen Systems (36).

In vielen Fällen umhüllt diese paradoxe Beziehung den eigenen rassifizierten Körper, wenn er im Museum präsent ist – in einer Beziehung von (a) Beklemmung, nicht in den Raum zu gehören aufgrund von "Rasse-’”, Klassen- und Geschlechtsunterschieden, die von den normativen Kulturkonsumenten’ und im schlimmsten Fall vom kuratorischen Personal selbst reflektiert werden. Und (b) eine Beziehung, die durch das erschütternde Wissen über koloniale und nekrokapitalistische Realitäten aufgebaut wird, wenn man anthropologische, ethnographische Ausstellungen oder solche, die sich im grossen Stil mit Umweltzerstörung befassen, erlebt – in Kenntnis der Realitäten rassifizierter Körper, die Systeme der Akkumulation in der kolonialen Vergangenheit und der globalisierten Gegenwart durch die Ausbeutung von Leben, Land und Arbeit aufrechterhalten. 

Dies könnte eine Verschiebung in der Vorstellung des Anti-Museums markieren – und dem Wert von Spektralität als kritischem Instrument. Ich argumentiere, dass das Anti-Museum als räumliche Figur durchaus wünschenswert ist. Doch für die Zwecke dieses Essays – und angesichts dessen, dass Museen weiterhin unter Prämissen der Neutralisierung und Domestizierung operieren – liegt die entscheidende Verschiebung nicht in der Ausstellung selbst (dem Was), sondern in der Erfahrung davon (dem Wie).

Eine Kritik der Moderne und des Kapitalismus muss sich nicht nur mit deren Kodifizierungen von “Rasse”, Klasse und Geschlecht befassen, sondern auch mit den verkörperten Realitäten, die daraus hervorgehen. Im Hinblick auf Rassifizierung als eine Form des Othering, der Unterwerfung und Abgrenzung, ist es zentral, Rasse als „körperliche Wahrnehmung und viszerales Gefühl“ zu untersuchen. Sie offenbart und problematisiert, „wie soziale Normen, Werte und Machtverhältnisse in gelebter Verkörperung habituell und materialisiert werden (37).“ 

Für Sachi Sekimoto und Christopher Brown ist “Rasse” „materiell fühlbar und greifbar erfahrbar“, ähnlich einer spektralen Dimension, die „beweist, dass Rasse präzise und strategisch eingesetzt (oder verschleiert) wird, um die Werte zu institutionalisieren, die in die verschiedenen Schattierungen menschlicher Körper eingeschrieben sind.“ Rasse ist nirgends – und überall. Nah und fern. Sichtbar und unsichtbar zugleich (38).

Im vorigen Beispiel bedeutet die rassistische Realität nicht nur ein „es könnte dir passieren” für PoCs beim Erleben kolonialer Artefakte, sondern zeigt, wie race „minutiöse Verhaltensweisen und Bemerkungen” im Raum des Museums beeinflusst, wie es auch in der Öffentlichkeit der Fall ist (39). In diesem Sinne erfüllt Rasse die Luft und unser Erleben, während Weisssein als „Schutz” vor der „Toxizität des Rassismus” fungiert (40). In nekropolitischen Begriffen impliziert diese Spektralität des Begriffs der Rasse, dass weissen Körpern erlaubt wird, „vollständig moralische Akteur*innen” und „neuroökonomische Menschen” zu sein, die die Hallen verschiedener Institutionen als rein okulare Wesen durchschreiten dürfen (41). Dieser Okularzentrismus, besonders in der historischen Entstehung des Museums als visueller Raum intellektueller Erfahrung, verstärkt die Trennung von Geist und Körper und schafft Weisssein als Formatvorlage, Wissen und Wahrheit durch einen neutralen und wissenschaftlichen Blick zu erleben. Im Gegensatz dazu erscheint Kolonisation als Werkzeug, das darauf abzielt, den Anderen zu „dezerebralisieren”, indem er ihm seine Umgebung entfremdet und einen „systematischen Bruch mit der Realität” vollzieht (42). Mit weitreichenden Implikationen über das Museum hinaus erscheint diese Dezerebralisierung als Mechanismus, wie die Moderne die Sinne kolonisiert, um Transzendenz als Ware zu evozieren, die die Vorstellung einer „durchsichtigen Welt” frei von Geschichten der Gewalt oder Rassifizierung verstärkt (43). Die Präsenz des Anderen in diesen durchsichtigen Räumen schafft für Mbembe eine „radikale Unsicherheit”, die die ausbeuterischen Systeme offenlegt, die den Vorstellungen von Freiheit und Konsum zugrunde liegen (44).

In der Unterscheidung zwischen dem Verständnis von Rasse als „Konstrukt” oder „Struktur der Unterdrückung”, die selbst körperlos ist, und Rasse als ein Gefüge „sinnlicher Realitäten mit Textur, Bewegung, Rhythmus, Temperatur und Gewicht” (45), wird die radikale Unsicherheit, welche die normative Kultur verfolgt, zu einem mächtigen Werkzeug des Wissens und Handelns. Mit Rasse als körperlichem und sinnlichem Ereignis – als „etwas, das passiert, statt etwas, das ist”– werden die „Verflechtungen” von Subjekten, Empfindungen, Diskursen sowie Institutionen offenbart (46). Zurück zum Eintritt ins Museum: Die erschütternde Erfahrung der Rasse darin, das sinnliche Beziehungen als soziale Beziehungen der Vergangenheit und Gegenwart reflektiert (47), offenbart Rassisierung als eine Technologie der Moderne und ausbeuterische Akkumulation, die „reguliert, wie Körper sich bewegen, fühlen, wahrnehmen, denken und miteinander interagieren, um bestimmte soziale Ergebnisse zu erzielen (48).” Dabei erscheint sensorisches Weisssein als Norm, welche die Verleugnung anderer sensorischer Beziehungen zur Welt ermöglicht – etwa im Bedürfnis, „es auszustellen, um es greifbar zu machen”– und verwandelt im Gegenzug Rassen- oder Klassendifferenzen in „physiologische Wahrnehmungen”, um soziale Hierarchien durchzusetzen (49).

Bei dieser Untersuchung des „Erlebens von Rassisierung” durch „rassifizierte Sinne” tritt Rasse sowohl im Museum als auch darüber hinaus als eine gespenstische und „hegemoniale Präsenz” in Erscheinung (50). Dies bedeutet nicht, dass Rasse ein Faktum ist, das in biologischen Unterschieden verwurzelt ist, wie es verschiedene Geschichten der Gewalt nahegelegt haben, sondern vielmehr, dass „Rasse sozial existiert”. Der Versuch, rassistische Konstrukte abzubauen, beginnt damit, „die Art und Weise zu transformieren, wie wir unsere Körper und Sinne bewohnen und zueinander ausdehnen”, insbesondere innerhalb einer Institution, die als epistemischer Raum für kulturelle Begegnungen dienen sollen. (51)

Sekimoto und Brown kritisieren die historische Auffassung von Rasse als Text, die oft eine okulare und intellektualisierte Perspektive auf körperliche Realitäten widerspiegelt. Sie hinterfragen Stuart Halls einflussreiche Idee, Kultur und Rasse „als Text” zu lesen, welche die Kulturwissenschaften revolutionierte, aber auch das Risiko birgt, strukturalistische Stereotype der abtrennenden Betrachtung und des Lesens als primären Zugang zu Wissen zu perpetuieren, der Fernsicht und Lesen als primäre Verständnismodi priorisiert (52). Dieser Ansatz unterdrückt die unmittelbare sinnliche Erfahrung und Materialität von Körpern, die Rasse erleben, oder tut sie gänzlich ab.

Sekimoto und Brown begegnen dem, indem sie Rasse als multisensorisch anerkennen und einen multimodalen Ansatz befürworten. Diese Multimodalität als „epistemologische Orientierung” überschreitet das Textuelle und Visuelle und umfasst Verkörperung, Verortung und die Dynamiken gefühlter Dimensionen und sozialer Interaktion (53). Diese Perspektive bietet eine Möglichkeit, auf die Spektralität von Erfahrungen in all ihren grauenhaften Ausweitungen zu reagieren, während wir uns die Geschichte der Ausbeutung und den nekropolitischen Aspekten zeitgenössischer Systeme stellen.

Wichtig ist, dass dieser Ansatz über Emotionen oder das sprachliche Verständnis von „mehr als Worte” hinausgeht und „unbenannte und unverständliche Räume” umfasst, die unser Sein in der Welt und unsere Beziehungen zueinander transformieren.

4. Unsere Sinne Heimsuchen

Welche Schlussfolgerung lässt sich aus dieser vielschichtigen Analyse des Anti-Museums, des Nekrokapitalismus und der erfahrbaren Dimension von Rasse ziehen – all jener Phänomene also, die die Institution heimsuchen, deren Fundament auf Geschichten von Gewalt und durch kapitalistische Akkumulation erzwungener Tragödien beruht?

Eine mögliche Antwort liegt in der Entwicklung einer multimodalen, insbesondere multisensorischen Museumspraxis. Das Kuratieren jenseits der bloßen Visualität, das Einbeziehen weiterer Sinne und verkörperter Praktiken, kann das Museum aus seiner vermeintlichen Neutralität und dem „zeitlosen Betrachtungsraum” herauslösen und es in eine politische wie ethische Erfahrung transformieren – ein Ort, der uns in Richtung sozialer Gerechtigkeit drängt (54).

Gleichwohl birgt diese Öffnung Gefahren. Die Sinne könnten instrumentalisiert werden, um Erfahrungen von Rassisierung oder anderen Formen der Diskriminierung zu ästhetisieren und zu verschleiern – ein Museum als „sensorischer Spielplatz” im Sinne einer Erlebnisökonomie, das seine Besucher*innen als bloße Konsument*innen adressiert (55).

Was die Forscherin der Sensory Studies Constance Classen als das „Nähren einer multisensorischen Ästhetik” bezeichnet, verweist hingegen auf ein Museum als „sensorisches Forum” – ein Ort geteilter Präsenz und vielschichtiger Erfahrung. Dieser Wechsel wirkt auf die Besucher*innen zurück und führt zu einem „epistemologischen Metroidvania”: einem Erkenntnisprozess, in dem Wissen nur durch ein tastendes, sich verzweigendes Bewegen durch komplexe Realitäten gewonnen werden kann.

Ich argumentiere, dass diese Transformation zur sozialpolitischen Relevanz des Museums trotz – und gerade wegen – der Geschichten von Gewalt und der Kolonisierung der Sinne sowohl auf der Ebene der Produktion als auch der Rezeption verankert sein muss. Institutionen sollten sich darum bemühen, sensorische Hierarchien zu vermeiden, wenn sie einen multisensorischen und multimodalen Zugang zum Museum fördern.

So kann etwa die Inszenierung von Erfahrungen wie den Schützengräben des Ersten Weltkriegs durch Geräusche und Gerüche die Gewalt der Geschichte sinnlich nachvollziehbar machen – oder aber eine Spektakularisierung derselben erzeugen (56). Auch dürfen die Sinne nicht als „niedere Formen“ der Erkenntnis angesehen werden, wenn sie auf Menschen bezogen werden, denen man die Fähigkeit zum intellektuellen Verstehen abspricht. Der Gedanke, dass Riechen oder Berühren den kulturellen Wert einer Ausstellung mindert, offenbart ein klassistisches, oft ableistisches Vorurteil.

Classen hebt die politische Dimension des „sensorischen Zugangs“ zum Museum hervor – ganz zu schweigen davon, ob die Körper der Anderen überhaupt Einlass in diese Räume finden (57).

Ich behaupte, dass die Anerkennung der Sinne im Museum sowie die Präsenz spektraler Heimsuchungen wie der Rassisierung das Konzept von Atmosphäre im Sinne des Philosophen Gernot Böhme erweitert. Für Böhme ist sinnliche Wahrnehmung immer auch mit „affektiver Betroffenheit“ verbunden – eine Erfahrung, in dem wir durch unseren Körper in Beziehung zur Welt treten und mit anderen Menschen und in Resonanz geraten (58).

Dies führt uns näher an das Verständnis jener Trennung zwischen dem Tatsächlichen (Wirklichkeit) und dem Realen (Realität), da sie nicht nur unsere Wahrnehmung prägt, sondern unsere scheinbar objektive Welt transformiert. Im Kontext des Museums und der nekrokapitalistischen Kräfte ermöglicht diese Perspektive ein Erkennen der ideologischen Schwerkraft, mit der die Welt gestaltet wird – jener diskriminierenden Praktiken, die für manche spürbar, für andere jedoch unsichtbar bleiben.

Atmosphären – als sensorische „Ko-Präsenz von Subjekt und Objekt“ – ermöglichen es, aristotelische (und damit kapitalistische) Konzepte von Wert und Substanz zu dekonstruieren. Sie öffnen eine ethisch-spektrale Dimension, die in die von kapitalistischen Regimen konstituierte Ontologie und Epistemologie hinein wirkt. Wahrnehmen wird damit zur aistethischen Auseinandersetzung mit der materiellen Welt in all ihrer sozialen Vielschichtigkeit – und trägt einen ethischen Impuls in sich: die Realität von „Spuren auf Körpern“, von „Neutralisierungen“ und „Domestizierungen“ anzuerkennen, die unsere Kulturen zugleich tragen und hemmen (59).

Wie bei der Erfahrung von Rasse destabilisiert dieser Prozess zunächst das Subjekt in seiner Beziehung zur Welt – etwa in der Angst oder dem Entsetzen, die rassistische Geschichte kapitalistischer Akkumulation und ihre Wirkung auf Institutionen zu begreifen. Doch wie Achille Mbembe in seiner „Nekropolitik“ darlegt, liegt in der Konfrontation mit dem Schreckhaften auch die Möglichkeit einer „radikalen Gastlichkeit” und einer „Beziehung der Fürsorge”.

Wenn wir uns der Zukunft des Museums zuwenden, angesichts der Spektralitäten, die uns heimsuchen und auf fortdauernde Gewaltgeschichten verweisen, kann diese Fürsorge als weitere spektrale Dimension verstanden werden, die durch ephemere Atmosphären und ihr multimodales Potenzial zum Tragen kommt (60).

Die Erfahrung der Spektralität von Institutionen und der verkörperten Realität der Anderen wird so zu einer Beziehung des Selbst zum Anderen – eine wechselseitige Anerkennung, die bei Verletzlichkeit beginnt und in Verantwortlichkeit mündet.

Diese Offenlegung führt zu dem, was Mbembe als „zukünftiges Denken“ bezeichnet: eine multisensorische, multimodale Kritik der „nokturnalen Risse“, die unser Leben strukturieren – eine Kritik, die sich um Passage, Überquerung, Bewegung dreht, um „fließendes Leben, das wir als Ereignis zu übersetzen versuchen” – und letztlich zur Fähigkeit führt, Räume für kollektive Entscheidungsfindung zu schaffen (61).

Das Anti-Museum ist in jenem „Trauern um das Verlorene“ verwurzelt, das Mbembe beschreibt – und vermag dadurch den institutionellen Kern über seine ursprüngliche Konzeption hinaus zu transformieren (62). Dies ist ein notwendiger Schritt, um jene Machtstrukturen zu verändern, die diesen Verlust überhaupt erst hervorgebracht haben.

Indem wir das „Teilhaben am Sinnlichen“ praktizieren und die Anderen samt ihrer spektralen Heimsuchungen ins Museum lassen, engagieren wir uns in einer Praxis, die sich darum bemüht, „die Welt wieder bewohnbar zu machen – und zwar für alle (63).“

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Dieses Essay entstand als Teil der Ausstellung Accumulation – über Ansammeln, Wachstum und Überfluss im Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich und vertieft den Diskurs und erweitert die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema. 



  • Footnotes:

    (1)
     Mbembe 2019, 171
    (2) Warren 2018, 6
    (3) Mbembe 2019, 170.
    (4) Mbembe 2019, 171.
    (5) Mbembe 2019, 171.
    (6) Mbembe 2019, 171.
    (7) Mbembe 2019, 172.
    (8) Mbembe 2019, 171.
    (9] Mbembe 2019, 172.
    (10) Mbembe 2019, 172.
    (11) Mbembe 2019, 172.
    (12) Mbembe 2019, 172.
    (13) Sriram 2025.
    (14) Marx, 1867, 926 quoted in Banerjee 2008, 12.
    (15) Banerjee 2008, 15.
    (16) Robinson 2021, 26.
    (17) Krenak 2024, 18;20.
    (18) Banerjee 2008, 15.
    (19) Ajari 2023, 58
    (20) Ajari 2023, 59
    (21) Ajari 2023, 13-14.
    (22) Mbembe 2019, 68.
    (23) Banerjee 2008, 14 (Quoting Montag 2005, 15).
    (24) Banerjee 2009, 9.
    (25) Mbembe 2019, 163.
    (26) Mbembe 2019, 162.
    (27) https://www.npr.org/sections/goatsandsoda/2023/02/01/1152893248/red-cobalt-congo-drc-mining-siddharth-kara
    (28) 
    Ajari 2023, 13-14.
    (29) 
    Banerjee 2008, 4.
    (30) 
    Banerjee 2008, 18.
    (31) 
    Franklin 2020,5. 
    (32) Banerjee 2088, 7.
    (33) Classen 2017, 141.
    (34) 
    Banerjee 2008, 10.
    (35) Banerjee 2008, 12.
    (36) Banerjee 2008, 33.
    (37) 
    Sekimoto and Brown 2023, 2.
    (38) 
    Sekimoto and Brown 2023, 200.
    (39) 
    Sekimoto and Brown 2023, 200.
    (40) 
    Sekimoto and Brown 2023, 200.
    (41) 
    Mbembe 2019, 67; 183.
    (42) 
    Mbembe 2019, 146.
    (43) Mbembe 2019, 113-114.
    (44) Mbembe 2019, 102.
    (45) / (46) 
    Sekimoto and Brown 2020, 3.
    (47) Sekimoto and Brown 2020, 5.
    (48) 
    Sekimoto and Brown 2020, 21.
    (49) Sekimoto and Brown, 30.
    (50) Sekimoto and Brown, 43.
    (51) 
    Sekimoto and Brown 2020, 43.
    (52) Sekimoto and Brown 2023, 203.
    (53) 
    Sekimoto and Brown 2023, 203.
    (54) 
    Classen 2017, 141.
    (55) 
    Classen 2017, 135; 141. 
    (56) 
    Classen 2017, 139, https://www.iwm.org.uk/events/first-world-war-galleries
    (57) Classen 2017, 140.
    (58) 
    Boehme 2014, 47-8.
    (59) 
    Barad 2007, 178; 185.
    (60) 
    Mbembe 2019, 175.
    (61) 
    Mbembe 2019, 181; 188.
    (62) 
    Mbembe 2019, 161.
    (63) 
    Mbembe 2019, 161.

     

    Bibliography:

    Ajari, Norman: Dignity or Death: Ethics and Politics of Race. Cambridge: Polity, 2023.

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    Banerjee, Subhabrata Bobby: “Necrocapitalism.” Organization Studies 29, no. 12 (2008): 1541–1563. https://doi.org/10.1177/0170840607096386.

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    Images:

    Cover: Elom 20ce, Musquiqui Chihying, Gregor Kasper, The Currency, Sensing 1 Agbogbloshie, 2023, © xizhuang, VG Bildkunst

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