Seit dem Frühjahr 2024 lädt das Deutsche Hygiene-Museum Dresden (DHMD) zur neuen Sonderausstellung „VEB Museum. Das DHMD in der DDR“ ein. Sie beschäftigt sich erstmals mit der Geschichte des Hauses von der Nachkriegszeit bis Anfang der 1990er Jahre. Im Zentrum der Ausstellung steht dabei das vielschichtige Profil des Museums als Produktionsbetrieb für anatomische Modelle und andere medizinische Lehr- und Aufklärungsmittel. Darüber hinaus bietet der Rückblick in den Mikrokosmos des Dresdner Museums, Einblicke und Rückschlüsse auf das Leben im sozialistischen deutschen Staat und über den Systemwechsel nach 1989.
Mit einem Exkurs über Vertragsarbeitende, Auszubildende und Studierende, die aus „sozialistischen Brüderländer“ in die DDR einreisten, werden ostdeutsche Migrationsgeschichten sichtbar. Die Auseinandersetzung mit deren Lebensrealitäten ist nach wir vor nützlich und nötig. Dass die DDR nicht einfach spurlos verschwunden ist, sondern mehr als 30 Jahre nach ihrem Zusammenbruch im Denken und Handeln der Zeitzeug:innen nachwirkt, ist ein Beleg für die wissensmäßige Kontinuität.
Aus welcher Motivation reisten sie in die DDR ein? Wie erlebten sie den DDR-Alltag? Wie ging es nach dem Herbst 1990 für sie weiter? Diese und andere Fragen wurden den Zeitzeug:innen gestellt, die heute in der sächsischen Landeshauptstadt leben. Ihrer Erfahrungen und Eigenarten wegen, werden sie als Expert:innen verstanden: Expert:innen des Alltags, Expert:innen für das Leben, das sie führen.
Aufgrund großen Arbeitskräftemangels warb die DDR ab den 1960er Jahren „ausländische Werktätige“ an. Dies geschah über zwischenstaatliche Regierungsabkommen mit sozialistischen Partnerländern. Viele von ihnen waren in der Textil-, Elektro- und Ernährungsindustrie beschäftigt. Diese waren aufgrund unattraktiver Bedingungen, wie Schichtarbeit oder der Verrichtung monotoner Handgriffe, durch eine hohe Personalfluktuation gekennzeichnet. Zu Beginn wurden vorwiegend Vertragsarbeitende aus Polen, Ungarn und Bulgarien angeworben. Ab den 70er und 80er Jahren kamen sie hauptsächlich aus Mosambik, Kuba und Vietnam. Bis Ende des Jahres 1989 lebten rund 93.000 Vertragsarbeitende in der DDR, wovon die vietnamesischen Arbeitskräfte die prozentual größte Gruppe bildeten. [1]
Die DDR verfolgte mit den Anwerbeabkommen handfeste wirtschaftliche Interessen wie die Bundesrepublik oder andere sozialistische Länder, die untereinander Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften schlossen. [2] Eine Informations- oder Öffentlichkeitsarbeit seitens der DDR-Behörden, um der DDR-Bevölkerung Motivation und Bedingungen dieser bilateralen Vereinbarungen zu vermitteln, fand nicht statt. [3]
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Die Kriterien für die Auswahl der zu delegierenden vietnamesischen „Werktätigen“ waren in den zwischenstaatlichen Vereinbarungen festgelegt. Diese wurden von vietnamesischer Seite jedoch nicht immer eingehalten, da sie genügend Ansatzpunkte boten, um mit Hilfe von Bestechung die attraktive Auslandsarbeit zu erhalten. [4] Neben der Auswahl der zu delegierenden Vietnames*innen waren zusätzlich Arbeitseinsatz und -dauer, kollektive Unterbringung, alle Rechte und Pflichten in den Staatsverträgen und dann in Jahresprotokollen zwischen der DDR und der SR Vietnam festgelegt.
Die Mehrheit jener Vietnames*innen, die als „Werktätige“ in die DDR einreisten, waren zwischen 18 und 40 Jahre alt. Vor Aufnahme der Arbeit sollten die Vertragsarbeitenden einen Lehrgang im Umfang von mindestens 200 Stunden erhalten, der „Grundkenntnisse der deutschen Sprache, der künftigen Tätigkeit, Gesundheits- und Arbeitsbestimmungen sowie Verhaltensanforderungen im Betrieb und in der Freizeit“ vermitteln sollte. Dieser Lehrgang stellte in den meisten Fällen die einzige vorgesehene „Integrationshilfe“ vonseiten der DDR für die Vertragsarbeitenden dar.
Die neuen Lebensverhältnisse und hinzukommenden staatlichen Reglementierungen führten zur Bildung pragmatischer, selbst organisierter Lösungsansätzen. [5] Diese hatten sowohl soziale als auch ökonomische Gründe.
Nach dem Schichtdienst wurden beispielsweise im Wohnheim begehrte Jeans oder andere Textilien genäht und verkauft. [6] Viele Wohnheime waren in kleine Werkstätten umgewandelt worden und bildeten eine komplexe Reihe von informellen Netzwerken und Austauschsystemen. [7]
In einem Gespräch verrät Hung The Cao, der ab 1987 als Sprachmittler für 200 vietnamesische Vertragsarbeiterinnen im VEB Kinderoberbekleidung Freital delegiert wurde, von seinen ersten Versuchen Jeans zu nähen:
„Ich bin damals – eigentlich bin ich faul – aber ich bin beeinflusst durch die Leute [anderen Vertragsarbeitenden] im Wohnheim. Wie sie sich hinstellen und die Maße abnehmen und Geld kriegen. Dann langsam, habe ich gedacht: ‚OK, ist leicht [verdientes] Geld. Warum nicht!‘ […] Wir arbeiteten nicht mit Schablonen. […] Es gibt eine Form [Vorlage], die verrechnen wir [mit den abgenommenen Maßen]. Am Anfang, wo ich das gemacht habe, hat es lange gedauert. Vielleicht zwei Stunden. Ich musste erstmal lernen zu nähen. Das Nähen ist nicht einfach. […] Muss man auch üben, dass die Naht gerade und sauber ist usw. Auch die Nähmaschine, die muss auch eingestellt werden. Oder manchmal, wenn es ein Problem gibt, muss man auch selber reparieren. Damals gab es keine Werkstatt. Alles musst du selber irgendwie reparieren. […] Für mich war es Anfang auch schwer. Man kann nicht sagen, dass es 100 Prozent Standard-Qualität war, also dass sie passten. Manchmal gab es Hosen, die [angezogen] schief waren und manchmal waren die zu eng. […] Dann muss man den Kollegen [um Hilfe] fragen. Irgendwann sammelt man Erfahrung z. Bsp. beim Zusammenfügen des Hosenbeins. Man muss beim Fügen des vorderen und hinteren Hosenbeins immer mit mäßiger, gleicher Spannung nähen, sonst […] werden die Hosen immer schief.“
Besonders dankbar war Hung über das ungenierte Auftreten der Kund*innen:
„Es [war] [gab] auch ganz selten, dass die Hose reklamiert wurde. Es gab auch keine schlimme Situation. Ich muss auch echt sagen, dass die deutsche Kultur, besser gesagt die DDR-Kultur, die Anziehkultur: Sie sind sehr locker. Das heißt sie sind nicht anstrengend. Wichtig war das es am Bauch und Gesäß passt. Wenn es unten locker war – egal! Wenn die Hose etwas schief war – egal!“
Obwohl Nebenverdienste nicht offiziell genehmigt waren, wurde das Anfertigen von Textilien ganz offen auf Bestellung und teilweise unter den Augen der Kontrollinstanzen ausgeführt. [8] In diesem Zuge fiel Hung eine weitere Erinnerung ein:
„Zur Weihnachtszeit, im Wohnheim. Also, ich erinnere mich noch: Die Leute, die stehen in einer Schlange etwa 20 bis 30 Meter. […] Und jeder kommt rein: ‚Bitte Hose machen‘, und dann ‚Tschüss! Bis in zwei Wochen!‘ […] Das bedeutet, dass die deutsche Bevölkerung unsere [Dienstleistung] [Produktion] aufsuchte.“
Hier zeigt sich, dass sowohl Hung als auch den vietnamesischen Vertragsarbeitenden bewusst war, auf welche Weise sich der Verdienst durch die irreguläre Produktion von begehrten Mangelartikeln wie Jeans aufbessern ließ.
Mit dem zusätzlichen Verdienst war es ihnen möglich, ihre Familien mit großen Mengen Versandwaren zu unterstützen. Auch das war im zwischenstaatlichen Vertrag geregelt.
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Interviewausschnitte mit Dresdner:innen aus migrantischen Communities sind in der Ausstellung bis zum 17. November 2024 im DHMD zu sehen. Des Weiteren sind sie auf der Homepage des DHMD öffentlich zugänglich.
- FOOTNOTES
[1] Vgl. hierzu: Fritsche, Klaus: Vietnamesische Gastarbeiter in den europäischen RGW-Ländern, Köln, 1991, S. 38-39.
[2] Vgl. hierzu: Plamper, Jan: Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen, Bonn, 2019, S. 127.
[3] Vgl. hierzu: Mende. Christiane: Lebensrealitäten der DDR-Arbeitsmigrant_innen nach 1989 – Zwischen Hochkonjunktur des Rassismus und dem Kampf um Rechte*, in: telegraph ostdeutsche Zeitschrift #120/121, S. 103-122, S. 106.
[4] Vgl. hierzu: BArch DL2 17368, https://bruderland.de/background/im-gegenseitigen-interesse/, letzter Aufruf 27.02.2023; Fritsche, Klaus: Köln, 1991, S. 3.
[5] Vgl. hierzu: Pawlowitsch, Claudia; Wetschel, Nick: Köln/Weimar/Wien, 2021, S. 197-198; Weiss, Katrin: Das Schicksal der DDR- Vertragsarbeiter aus Vietnam. Die Mehrheit ging zurück, ein Drittel blieb in Deutschland, in: Ostalgie international. Erinnerungen an die DDR von Nicaragua bis Vietnam, Berlin, 2010, S. 156-165, S. 157-158; Klessmann, Maria: Berlin-Brandenburg, 2011, S: 188-210, S. 191.
[6] Vgl. hierzu: Weiss, Karin: Zwischen Vietnam und Deutschland – Die Vietnamesen in Ostdeutschland, in: Zuwanderung und Integration in den neuen Bundesländern. Zwischen Transferexistenz und Bildungserfolg, Freiburg im Breisgau, 2007, S. 72-95, S.77-78.
[7] Vgl. hierzu: Plamper, Jan: Bonn 2019, S. 143-144.
[8] Vgl. hierzu: Weiss, Karin: Freiburg im Breisgau, 2007, S. 77.
IMAGE CREDITS
Cover, fig. 1: Dokumentation des Workshops, 2023. Foto and © courtesy of Iona Dutz.