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ON BEING WRONG

Die Beitragsreihe „Being Wrong“ verweist auf eine grundlegende Dimension der Falschheit.

  • Feb 07 2023
  • Armen Avanessian, Karen van den Berg und Jan Söffner
    Armen Avanessian is Professor for Media Theory at Zeppelin University in Friedrichshafen. A few of his monographs have been translated into English language, such as Irony and the Logic of Modernity, DeGruyter, 2015, Present Tense. A Poetics, Bloomsbury 2015 and Metanoia. A Speculative Ontology of Language, Thinking, and the Brain, Bloomsbury 2017 (both (together with Anke Hennig), Overwrite. Ethics of Knowledge – Poetics of Existence. Berlin: Sternberg Press 2017, Miamification, Sternberg Press 2017. Future Metaphysics, Polity 2019. Recently published: One plus One. Spekulative Poetik von Feminismus, Algorithmik, Politik und Kapital (Merve 2019) and I - I. Spekulative Poetik von Feminismus, Algorithmik, Politik und Kapital (Merve 2019, both with Anke Hennig) as well as Konflikt. Von der Dringlichkeit, die Probleme von morgen schon heute zu lösen. (Ullstein, 2022)

    Karen van den Berg is Professor of Art Theory & Curating at Zeppelin University in Friedrichshafen since 2003. Teaching and guest residencies have taken her to Chinati Foundation in Texas, Stanford University and the IKKM at Bauhaus University Weimar, among others. Van den Berg’s research focuses on art and politics, activism, theory and history of curating, and studio practice. She has edited more than twenty books including: The Art of Direct Action. Social Sculpture and beyond (Sternberg Press 2019 with Cara Jordan and Philipp Kleinmichel) and Art Production Beyond the Art Market? (Sternberg Press 2013 with Ursula Pasero). Currently, she is one of four Directors of Studies within the Innovative Training Network "The Future of Independent Art Spaces in a Period of Socially Engaged Art (www.feinart.org).

    Jan Söffner holds the chair for Cultural Theory and Cultural Analysis at Zeppelin University in Friedrichshafen. Jan earned his PhD in Italian Studies and his 'Habilitation' (second, post-doctoral dissertation) in Comparative Literature and Romance Studies. In 2016 he held the position of Program Director at Wilhelm Fink publishing house in Paderborn. Publications include Nachdenken über Game of Thrones. George R.R. Martins A Song of Ice and Fire, Wilhelm Fink, Paderborn 2017; Metaphern und Morphomata, Wilhelm Fink, Paderborn [Reihe: Morphomata], 2015; Partizipation. Metaphern, Mimesis, Musik und die Kunst, Texte bewohnbar zu machen, Wilhelm Fink, München 2014.

„Falsch“ zu sein oder ein „falsches“ Leben zu führen, im falschen Körper zu sein, in die falsche Familie oder gar in die falsche Kultur hineingeboren zu werden; dort etwas „Richtiges“ leisten zu müssen, das aber so falsch aussieht. 

Im Unrecht zu sein oder gar ein falsches, unaufrichtiges Leben zu leben, im falschen Körper zu stecken, in die falsche Familie oder gar die falsche Kultur hineingeboren zu sein – und dort etwas „Richtiges“ spielen zu müssen, das aber so falsch zu sein scheint: Die Formulierung „Being Wrong“ verweist auf eine grundlegende existentielle, kulturelle, ja fast schon ontologische Dimension des Falschen. Bei dem heute in verschiedenen Formen grassierenden Gefühl, einer problematischen Kultur anzugehören, in der falschen Haut zu stecken, ein falsches Leben zu leben, handelt es sich jedenfalls um mehr als um harmlose Irrtümer oder kleine Fehler, die sich leicht ausräumen oder entschuldigen ließen. „Being Wrong“ bedeutet, dass das System, der Mensch, das Denken oder Handeln als Ganzes falsch und fundamental gestört sind. 

Leben wir in einer solchen Zeit, in der wir mit all unseren Überzeugungen, Praktiken, Wissensformen, Institutionen und Infrastrukturen also epistemisch, lebenspraktisch und bis ins kollektive Unbewusste hinein falsch liegen und damit sogar transzendentales Unrecht anrichten? Müssen wir, wie der Kulturanthropologe David Graeber und der Prähistoriker David Wengrow in ihrem Buch „Anfänge“ argumentieren, auch die Geschichte der Menschheit vollkommen neu denken, weil die Idee des intellektuellen Fortschritts und die landläufige Geschichte der Zivilisation grundlegend falsch sind? Zeitdiagnosen beschreiben die Gegenwart als eine Zeit der Filterblasen, der politischen Spaltung und Radikalisierung, als eine Zeit, die von Krisen planetarischen Ausmaßes geprägt ist und in der Folge von dem Wunsch nach „Vereindeutigung der Welt“ (Thomas Bauer) und dem Glauben an eine algorithmische Steuerung, die vermeintlich eindeutige Lösungen aufzeigt.

Ist in dieser Zeit womöglich ein latentes, aber alles durchdringendes Gefühl des „Being Wrong“ zu einem kollektiven, unbewussten Treiber geworden, der zwischen gewaltbereiter Zerstörung, Schuldgefühlen, Scham, Verharren, Zynismus, Absurdität, Tragik und Parodie noch eine Richtung sucht? Sind wir also Zeugen eines Ringens um ein neues Weltverhältnis als Ganzes? Und wenn dem so wäre, welche ähnlichen Erfahrungen eines solch tiefgreifenden „Being Wrong“ gab es in der Geschichte der Menschheit und was ließe sich aus einer Historie unterschiedlicher Haltungen zum Falschen lernen? Steht der Menschheit, wie die Journalistin Kathryn Schulz argumentiert, die Rechthaberei im Wege, wenn es darum geht, einen Umgang mit falschen oder sogar Unrecht produzierenden Überzeugungen zu finden oder die Handlungsprämissen zu ändern?

 

Karen van den Berg: In unserer Reihe „On Being Wrong“, die wir über fünf Ausgaben hinweg  gemeinsam mit AWC veröffentlichen, laden wir Künstler:innen, Wissenschaftler:innen, Kurator:innen und Aktivist:innen ein, sich mit der Frage zu befassen, was es bedeutet, in einem politischen und sozialen Umfeld zu arbeiten, das von irreversibler planetarischer Zerstörung, sozialer Spaltung und Krieg geprägt ist. Was bedeutet es, Wissenschaftler:in oder Künstler:in zu sein, und das in Gesellschaften, die sich etwa in Klima- und Migrationsfragen nicht an ihre eigenen Gesetze halten?

Was unterscheidet Being Wrong vom Doing Wrong? Beim Being Wrong geht es anders als mein Doing Wrong nicht um das Unrecht-Tun, um moralische Verfehlungen, fatale Irrtümer oder Fehlannahmen. Ein Being-Wrong-Gefühl  gründet sich z.B. darauf, dass ich in der hochindustrialisierten Festung Europa lebe und mich allein schon dadurch mitschuldig mache an der weiteren Zerstörung des Planeten. Das Tun bietet hier keinen Ausweg aus dem Sein. Diese „identitäre Logik“ scheint mir heute viele Debatten zu prägen.

Ich gehöre einer Generation von Westdeutschen an, die als Jugendliche auf schmerzhafte Weise lernen musste, dass sie in ein dunkles Erbe hineingeboren ist. Darauf gründete sich für viele Deutsche meiner Generation die politische Identität. Das mit Schuld behaftete Deutschsein spendete eine merkwürdige politische Energie. Zumal klar war, dass dieses Deutschsein – mindestens diese Lehre konnte man aus der NS-Zeit ziehen – ein Konstrukt ist und zwar eines, das macht die Sache noch ein wenig komplizierter, das sich dennoch nicht einfach abschütteln oder beliebig uminterpretieren lässt. 

Das hat Mithu Sanyal in ihrem grandiosen Roman Identitti auf ungemein kluge Weise gezeigt. Eine charismatische Weiße Professorin für postkoloniale Theorie, die vorgibt, Inderin zu sein, wird zum Sprachrohr der PoCs. Als ihre „wahre Identität“ auffliegt, bringt sie ihre studentische Fangemeinde gegen sich auf und löst in ihr Existenzkrisen aus. Als privilegierte Weiße Betrügerin verliert sie an Glaubwürdigkeit und entwertet damit all ihre Botschaften. Die Identität wird dabei zu einer moralischen Kategorie. Und das bleibt nicht folgenlos. 

Jan Söffner: Gerne würde ich bei dem Empfinden des Falschseins ansetzen und die Beobachtung anders aufziehen. Ich wohne in Überlingen und es war für mich im letzten Sommer ziemlich merkwürdig, jeden Tag bei der Arbeit auf den Bodensee runter zu gucken, während der Computer mich gleichzeitig mit Nachrichten über Krieg, Erderwärmung, Pandemie, Zusammenbruch globaler Wertschöpfungsketten, Inflation, instabilen Demokratien usw. überflutete. Denn gleichzeitig passierte auf dem See eigentlich nichts, das irgendwie dazu gepasst hätte. Die Leute gingen ganz normal schwimmen, saßen auf ihren Jachten oder standen auf ihren Standup-Paddel-Brettern. Es war einfach, als ob diese, unsere Zeit an sich selber vorbeiliefe. Ich habe mir dafür damals das Wort der Vorbeigeworfenheit überlegt – mit einem Gedanken an die heideggersche „Geworfenheit“, an die Unausweichlichkeit der Existenz als Dasein und Sosein – bloß mit dem Unterschied, dass man eben nicht in die Welt geworfen zu sein scheint, sondern daran vorbei; es scheint das Ausweichen selbst zu sein, das unausweichlich geworden ist. Man lebt neben der Welt – und genau auf diese Weise ist man falsch.

Es ist die Frage, ob durch dieses falsche, vorbeigeworfene Leben, die Moral des Being Wrong nicht noch auf eine andere Weise ins Spiel kommt. Wer da schwamm, paddelte oder segelte, wusste ja ganz genau, was da alles in der Welt passiert. Die Leute, die ich da Tag für Tag sah, wussten bloß genauso wenig wie ich selbst, was man dagegen hätte tun sollen. Man ist damit zwar vielleicht weniger für all die Krisen verantwortlich – aber umso mehr dafür, an ihnen vorbeigeworfen zu sein. Man kann hier an Jean Paul Sartres Gedanken erinnern, der das Ausweichen vor gerade dieser Verantwortung für die eigene Haltung an einer Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber festgemacht hätte: wörtlich übersetzt, einem schlechten oder bösartigen Glauben („mauvaise foi“). Man wäre nach Sartre falsch, wenn man sich etwas vormacht, und zwar völlig bewusst. Der Gedanke ist gegen Freud gerichtet, für den das Falsch-Sein Folge einer Verdrängung wäre und man das Richtige also nur durch einen schmerzhaften analytischen Prozess wieder bewusst machen könne. Für Sartre ist einem alles völlig klar – man handelt bloß nicht danach.

Die Moral der Vorbeigeworfenheit auf diese Weise zu formulieren, wäre mir aber, ehrlich gesagt, zu moralin, um moralisch zu sein: Man würde den Touristen vorwerfen, dass sie an der Welt vorbeileben – hätte aber gar keine Antwort auf die Frage, warum ein aufrichtiges Leben, das dann flugs in Depressionen, Burn-out und eigene Unerträglichkeit für andere führen würde, irgendwie besser wäre. Die aufdringliche Seins-Tragik der Existentialisten war ja schon zu ihrer eigenen Zeit sprichwörtlich, heute wäre sie unerträglich. Was aber dann? Vielleicht könnte man stattdessen an Adornos resigniertes Diktum denken, dass es eben „kein richtiges Leben im Falschen“ gebe, dass man also gar nicht angemessen in der Welt wohnen könne und es, wie er schreibt, zur „Moral“ gehöre, „nicht bei sich selber zu Hause zu sein“. Vorbeigeworfenheit wäre, insofern sie sich selbst erkennt, dann selbst eine moralische Haltung. Das zu sagen hat allerdings umgekehrt eine zynische Komponente, und die ich genauso unerträglich finde wie existentialistische Tragik: Weil man erkennt, wie falsch alles ist, fühlt man sich grässlich schlau – richtet es sich in der eigenen Falschheit aber behaglich ein. Man bezieht Residenz im „Grandhotel Abgrund“, wie Georg Lukács das treffend nannte. Das ist also ebenfalls nicht recht befriedigend.

Wie kann man aber mit dem Falsch-Sein auf ethische Weise umgehen? Vielleicht sollte man auch hier Karens Unterscheidung von Being Wrong und Doing Wrong schärfer machen, als Sartre oder Adorno das taten. Sie hätten das vielleicht auch gar nicht gekonnt, denn in der Ethik ihrer Zeit setzte man kaum auf das Sein (also was man ist oder wie man es ist), und stattdessen eher auf das Tun. Dieses versucht die deontologische Ethik über Regeln und Pflicht zu regulieren – die utilitaristische Ethik versucht es auf den Nutzen auszurichten. Die eigentlich spannende Frage für Vorbeigeworfenheit als Being Wrong ist aber diejenige, wie man ist. Und dafür gab es einst (und teilweise in ostasiatischen Religionen sowie in der katholischen Kirche noch heute) die Tugendethik. Ihr gemäß ist der Austragungsort der Ethik nicht das, was man tut oder was man glaubt, sondern wie man ist. Und wie man ist – die Haltung also, die man hat – scheint mir auch das eigentliche Problem zu sein, für das u.a. die Vorbeigeworfenheit ein bloßes Symptom sein könnte. Es geht also nicht darum, ob man falsch im Falschen lebt – und ob man dafür verantwortlich ist –, sondern darum wie man das tut und wer man auf diese Weise ist. Das so zu sehen, ist zwar keine Moral des Being Wrong – steckt aber das Terrain ab, auf dem eine solche errichtet werden kann.

Armen Avanessian: Das sind ja einige sehr interessante Punkte, und ich teile natürlich unsere Beobachtungen über das auf ganz unterschiedlichen kulturellen, sozialen, psychologischen Ebenen weit verbreitete Phänomen, wie wir das einleitend festgehalten haben. Aber ich möchte das ubiquitäre Being Wrong gerne anhand ein paar der schon angesprochenen Punkte auch ein bisschen kritisch hinterfragen, und zudem sollten wir auch immer berücksichtigen oder uns fragen, was an bürgerlichen Schizophrenien oder Zynismen oder dem systematischen Ausblenden von Problemen zeitspezifisch ist, und was generelle Mechanismen von Ideologie oder ideologische Praxis sind (ich denke da auch an Adornos Diktum „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“)? Ich beginne bei Tun und Sein, die ja gar nicht so klar voneinander zu trennen sind. Also Nietzsche, Freud, der Dekonstruktion und anderen Theorieschulen folgend können wir, denke ich, nicht mehr unproblematisch von einem essentiellen Sein hinter unserem Tun ausgehen. Und das Thema Stolz und Schuld hat auch ganz unterschiedliche historische und kulturelle Konnotationen je nach Kontext, in Deutschland zum Beispiel, zugespitzt formuliert, die Einsicht in die größte historische Schuld und den Stolz, besser als alle anderen in der Aufarbeitung von Schuld zu sein.

Wenn ich versuche, das für unsere Frage zu generalisieren, ist es vielleicht hilfreich, das Being Wrong in den Kontext anderer, verwandter Phänomene zu stellen, die alle etwas teilen, was man eine Verbindung oder eine Vermischung von ethischen und epistemologischen Aspekten nennen kann. Das betrifft den Eindruck, dass in vielen Debatten kaum noch getrennt werden kann zwischen Fragen nach Wahrheit und Moral, wir haben es mit einer zunehmenden Moralisierung von Wahrheit zu tun. Verbunden ist dieses Sich-falsch und Schuldig-Fühlen mit dem ständigen Auftrag, die eigenen Privilegien zu checken und vor allem mit einem Kult des Sich-Entschuldigens, der ja auch problematische Aspekte hat.

Die feministische Anthropologin Elisabeth Povinelli hat das schön zugespitzt: “Liberals are quite forgiving to liberals who engage in self-reflection and self-correction. Indeed, the discourse of the apology is a key discursive feature of liberalism”. Und dieses Ent-Schuldigen hat eine stabilisierende Funktion insofern, als die Benennung der eigenen Schuld oder Mitschuld paradoxerweise – oder eben gar nicht so paradox – dazu führt, dass man sich besser fühlt und weder sich noch die Gesellschaft radikal transformieren muss. In der Politik gibt es für den relativ konsequenzlosen Entschuldigungskult so sympathische neoliberale Beispiele wie Justin Trudeau, aber auch so traditionelle Institutionen wie die Kirche entschuldigen sich mittlerweile gerne – natürlich ohne etwas an den strukturellen Gründen zu ändern – bei den Opfern von Pädophilie oder, mein Favorit, wie Papst Johannes Paul II 1992, also ein paar Jahrhunderte zu spät, bei Galileo.

Karen van den Berg: Aber wie kommt es zu dem Entschuldigungskult und warum bleibt er so eigentümlich konsequenzlos? Ich glaube, mit dem Selbst-Bashing der Liberals oder auch der Linken kommen wir hier nicht weiter. Das verschiebt die Selbstbezichtigung nur auf die nächsthöhere Ebene: Wir bezichtigen uns dessen, dass wir uns bezichtigen. Ich würde stattdessen fragen: Warum erwächst aus Schuldeingeständnissen keine Solidarität oder keine transformative Energie, sondern eher eine „Vorbeigeworfenheit“, wie sie Jan beschreibt. Das hat sicher mit einer Vermischung von Moralisierung und Wahrheit, Ethik und Epistemologie zu tun, aber vor allem auch mit einer im rein symbolischen Handeln verhafteten Moral, die eines aus dem Auge verloren hat: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, „sich zu entschuldigen“. Niemand kann sich selbst entschuldigen. Um Entschuldigung muss ich bitten und zwar jene, die mir vergeben können. Weder Selbstbezichtigungen noch Belehrungen beenden Konflikte. Es bleibt hier beim Being Wrong. Das ließ sich sehr gut an dem Antisemitismus-Skandal um die documenta fifteen beobachten. Statt eines produktiven, vielleicht auch krachenden Streits gab es eine überdimensionierte Skandalisierung, gab es Zensur, verunglückte Entschuldigungsversuche, und Belehrungen; es gab gecancelte Gespräche, Othering-Exzesse, kulturpolitische Drohkulissen und Rassismusvorwürfe. Niemand bot dabei dem anderen einen Ausweg aus dem Schuldig-Sein, dem Being Wrong. Jede:r gab vor zu wissen, wo das „eigentliche“ Problem liegt. Das hat sicher mit der für unsere Zeit typischen „identitären Logik“ zu tun. Und die ist meilenweit von dem entfernt, was Judith Butler als eine Ethik der Verletzlichkeit bezeichnet hat; eine Ethik also, die darauf gründet, dass wir – ausgehend von einem Bewusstsein für die eigenen Unzulänglichkeiten – auf die Anderen, die Fremden, unsere Gegner blicken und diese Unzulänglichkeiten auch unserem Gegenüber zugestehen.

Das ist keine Kleinigkeit! Vielmehr verlangt diese Fähigkeit ein hohes Maß an Souveränitätvon uns. Und gleichzeitig blendet sie aus, dass wir alle in ein „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, wie Hannah Arendt es nannte, hineingeboren und dadurch auch belastet sind. Dieser Widerfahrnis-Charakter ist elementar; er prägt unsere Existenz. Er lässt sich daher auch nicht ohne Weiteres abschütteln. Ich habe gerade das wunderbare Buch „Decolonial Ecology“ von Malcom Ferdinand gelesen, in dem der Autor an einer Stelle beschreibt, wie gefangene Afrikaner:innen in dem Moment, in dem sie auf das Sklavenschiff verbracht werden, soziopolitisch, wenn nicht gar ontologisch, etwas anderes werden. Sie werden zum Material einer Plantagenlogik und damit als Person vernichtet. Dieses Beispiel zeigt, welche Abgründe das Othering der identitären Logik bereithält und wie es Empathie und Solidarität zerstört.

Jan Söffner: Es ist unglaublich wichtig, dass diese Formen des Othering – und vielleicht kann man auch sagen: diese Andere-Falsch-Machen , d.h. zu falschen Menschen machen – bewusst werden. Und die unangenehme Frage dabei ist, wie Empathie und Solidarität aufzubauen sind. Hier haben wir in den letzten Jahrzehnten eine ziemliche Verschiebung erlebt. Ich würde das gern versuchen, auf einen Punkt zu bringen, der vielleicht zu einfach ist, aber helfen könnte. Roberto Bazlen hat in ähnlichen Zusammenhängen vom Problem des richtigen Wortes im falschen Mund gesprochen – und damit die Frage aufgeworfen: Wann ist etwas ein Problem der Wörter und wann ein solches der Münder? Wenn man auf die Geschichte der Bundesrepublik zurückgreift, war das Problem des richtigen – des empathischen, solidarischen – Wortes im falschen Mund ziemlich dominant. Denken wir zum Beispiel an die Wörter der Blechtrommel und der moralischen Appelle im Mund des SS-Manns Günter Grass. Was für ein Gewicht in den Mündern lag – und nicht in der Aussage – wurde immer dann klar, wenn man merkte, dass Leute, auf die man sich beim Aufbau eines empathischeren und solidarischeren Deutschlands verlassen hatte, die ganze Zeit verheimlicht hatten, schlimmer Teil desjenigen Deutschlands gewesen zu sein, das unter aktiver Verunglimpfung dieser Werte eine Vernichtungsmaschine aufgebaut hatte.

Heute hat sich das Problem allerdings verschoben, da man immer genauer auf die Münder achtet – und dafür immer weniger auf die Wörter. Denken wir etwa an die Debatte, die Marieke Lucas Rijnevelds Übersetzung des Gedichts von Amanda Gormans „The Hill We Climb“ ins Niederländische ausgelöst hat. Da hatten wir eine sehr gute Übersetzerin, die das richtige, empathische und solidarische Wort vermutlich problemlos gefunden hätte, aber den falschen, weil kaukasischen Mund dazu hatte. Es ging in der moralisch aufgeladenen Auseinandersetzung nicht um die literarische Praxis der Übersetzung – man ließ vielmehr zu, dass literarische Einfühlung als notwendige Basis jedweder guten Übersetzung (und übrigens auch jedweder guten Lektüre), den Geruch von „inappropriate appropriation“ angehängt bekam. Es zählte das Sein, nicht das Tun, der Mund, nicht die Wörter. Beide Extreme, mit dem Problem des richtigen Wortes im falschen Mund umzugehen, scheinen mir bedenklich – beide scheinen mir der Solidarität und der Empathie einen Bärendienst zu erweisen.

Ich habe nun keine Lösung für dieses Problem, glaube nicht, dass es einen Kompromiss zwischen dem Fokus auf die Wörter und dem Fokus auf die Münder gibt. Wichtig ist mir nur die Feststellung, dass die Münder (also das Being Wrong) zentraler Austragungsort unserer Debatten geworden sind, während die Wörter an Gewicht verlieren. Auch davon zeugt meines Erachtens das Entschuldigungsgeplapper, auf das Armen aufmerksam gemacht hat: Die Entschuldigungen werden vom Gewicht ihrer Aussage immer weiter befreit, sodass sie immer leichter über die Lippen gehen, weil sie diese immer weniger tangieren. Sie sind oft nicht einmal mehr falsche Worte im eventuell richtigen Mund, sie sind bloß Bullshit.

Wenn man sich fragt, wie es zu dieser Entwertung der Wörter gekommen ist, kommt man nach ein paar Gedankenwindungen, die ich uns ersparen möchte, fast notwendiger Weise bei der digitalen Transformation an. Diese hat gezeigt, dass sich Wörter als Zahlen darstellen und vor allem vorausberechnen, simulieren, manipulieren und steuern lassen – und damit dem Linguistic Turn in einer ohnehin schon immer mathematischer werdenden Welt den letzten Sargnagel verpasst: Unsere Welt ist algorithmisch, nicht mehr sprachlich verfasst. Das sieht man besonders dort, wo Algorithmen, die als solche kein Bewusstsein (und das heißt: kein eigenes Being) haben, sich der Sprache zu bedienen lernen – wie etwa GPT. Solche Software produziert zwar etliche scheinbar wahre und auch scheinbar erlogene Aussagen, ist aber eigentlich nur darauf programmiert, sich aus Fragen herauszulavieren, die man ihr stellt. Sie tut dies, indem sie die größte Wahrscheinlichkeit berechnet, mit der auf eine entsprechende Frage geantwortet würde. Das ist genau die Definition, die Harry Frankfurt für Bullshit entwickelt hat – nämlich, dass Being Wrong und Being Right indifferent werden. Das Funktionieren dieser Software ist insofern eine Provokation, als es uns vor Augen führt, wie belanglos unsere Wörter geworden sind.

Die andere Seite derselben Entwicklung ist, dass damit unsere Münder immer mehr Gewicht bekommen. Denn auch darauf ist die digitale Entwicklung ausgerichtet: dass sie das vorhergesagte Verhalten der Menschen – deren Being – beeinflussen und steuern kann. Es ist für diese digitale Logik nicht wichtig, was die Wörter über ihren Gegenstand aussagen – dafür aber wird immer wichtiger, auf welche Art von Sprecher sie verweisen. Der Effekt dieser Verschiebung von der Aussage auf das Verhalten auf die dergestalt ‚gehackten‘ Menschen, lässt sich in Filterblasen, Verschwörungstheorien oder politische Polarisierungen beobachten, wo jeweils bestimmte Sprecher digital zusammengebracht und in ein gemeinsames Being (Wrong) geführt werden. Wenn die Wörter – das, was diese Leute sagen oder schreiben – hier Gewicht haben, dann vor allem deshalb, weil sie auf die Münder zurückgeführt werden, aus denen sie stammen und mit denen sie verwachsen: Die Aussage zählt nicht in der wahren oder falschen Bezugnahmen auf ihren Gegenstand, sondern als Teil der Identität des Sprechers; und, oft ohne es zu merken, werden die Wörter in den entsprechenden Gruppen auch immer mehr so benutzt. Die Identität (was man ist), wird von der Meinung (die man hat) kaum unterschieden – und insofern können Faktenchecks auch so herzlich wenig ausrichten: sie setzen an der falschen Stelle, beim Gegenstand an; so als wären die Wörter noch entscheiden und man versuchte sich noch immer von verschiedenen Sichtweisen auf die Welt zu überzeugen. Man bewohnt stattdessen verschiedene Welten und die Wörter sind nur noch da, um die jeweiligen Münder zu bestätigen. Wenn man falsch liegt, dann hat man entsprechend auch nicht mehr bloß Unrecht, man ist dann falsch.

Armen Avanessian: Leider haben wir jetzt nicht die Zeit, ausreichend ausführlich über die einzelnen Phänomene nachzudenken; ich möchte nur zur documenta die oder eine Gegenposition des globalen Südens ergänzen. In der Terminologie unseres Gesprächs lautet der Gegenvorwurf, dass sich etwa Deutschland anmaßt, die Oberhoheit über Schuld, Entschuldigung und in der Folge auch über eine Definitionsmacht in Sachen Antisemitismus zu verfügen.

Aber ich habe die documenta nicht gesehen und auch kein Interesse an diesen Kunst- und Feuilletondebatten. Vielleicht ist es abschließend sinnvoller, anstelle von kuratorischen oder künstlerischen Praktiken auf unsere eigene intellektuelle Praxis als Geisteswissenschaftler zu reflektieren. Und da zeigt sich schon auch eine interessante Gegenüberstellung von Doing und Being Wrong. Immer wieder begegnet mir im akademischen Alltag eine Frontstellung, die man am besten so beschreiben kann: Auf der einen Seite der Vorwurf, wonach vermeintlich progressive geisteswissenschaftliche Arbeit in den sogenannten Humanities akademisch ungenügend, also letztlich ein wissenschaftliches Doing Wrong sei: nicht ausreichend empirisch, nicht objektiv evaluierbar, den harten Kriterien der Quantifizierung ausweichend etc., wogegen nur eine ausreichend starke Dosis regelmäßigen peer reviewings helfe (obwohl das de facto von zahlreichen der relevantesten, einflussreichsten und anerkanntesten geisteswissenschaftlichen Zeitschriften und Verlagen gar nicht praktiziert wird). Auf der anderen Seite steht der Vorwurf gegen die bornierte, reaktionäre, oder einfach ‚nur‘ geisttötende Tendenz zunehmend neoliberal geführter Universitäten, hinter deren ‚Willen zur Evaluation‘ demnach zwanghafte Bürokratisierung, Managementisierung, Ökonomisierung und alles mögliche andere stehen, aber sicher kein progressiver Spirit oder Geist. Letzterer würde sich statt dem oberlehrerhaften Doing Wrong einer zunehmenden Homogenisierung von Forschung eher einem wissenschaftlichen oder aufklärerischen Being Wrong verpflichtet fühlen, wonach die eigene wissenschaftliche Tätigkeit ihren Imperativ darin sieht, bestehende Dogmen, Ideologien oder Paradigmen zu hinterfragen, sowohl was die Dominanz neoliberale Methoden in den Einzeldisziplinen betrifft, als auch den zunehmenden ökonomischen Druck in der akademischen Praxis generell zu thematisieren (also statt Bücher zu schreiben, nur Journal-Aufsätze, quasi Bibliometrie statt Bibliophilie). Being Wrong würde hier nicht mittels quantitativer Bestimmungen und Methoden ausgemerzt, sondern produktiv werden für ein progressives oder aufgeklärtes wissenschaftlichen Arbeiten im Sinne eines qualitativen Kriteriums, die hegemonialen Methoden nicht zu akzeptieren oder hörig nachzuahmen. Wobei ich Aufklärung hier mit einer so problematischen (wrong?) Figur wie Immanuel Kant verstehe als Auftrag, gegen die eigene Unmündigkeit anzudenken und anzuschreiben: als eine progressive Aufklärung somit, die den Zuwachs ihres Wissens nicht quantitativ, sondern zuletzt qualitativ darin misst, inwiefern es dem eigenen Falschliegen, den eigenen blind spots entgegenarbeitet, statt sich in vorauseilendem Gehorsam den ökonomischen Mächten an den Hals zu werfen.

Jan Söffner: Ja, auch das ist ein gutes Beispiel für unser eigenes Being Wrong im akademischen Betrieb – und dafür, wie man sich ihm vielleicht besser stellen könnte. Wenn ich an die akademischen Herausforderungen der „generative AI“ denke, die schon die qua Review-Verfahren und Antragsprosa stromlinienförmig gemachten akademischen Texte erstaunlich gut imitieren kann (Plagiate waren gestern, heute schreibt GPT das Impuls-Paper, bald wohl auch die Hausarbeiten oder Artikel), dann wird klar, dass man nur dann noch dem jahrhundertealten Auftrag der Universitäten gerecht werden kann, wenn man genau diese Mündigkeit mitbringt und das Risiko eingeht, die eingefahrenen Wege – und „Weg“ ist die wörtliche Übersetzung des griechischen methodoszu verlassen und andere Methoden zu finden. Die Universitäten haben nicht per se und entlang ihrer bestehenden eingetretenen Pfade die Antwort auf das gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle Being Wrong unserer Zeit; schlimmer noch: im Rahmen der vermeintlichen „Anwendbarkeit“ verfangen sie sich oft derart in gesellschaftlichen Zwängen, dass man sich den alten Elfenbeinturm zurückwünschen könnte, wenn es ihn denn je gegeben hätte.

Ich bin mir nicht sicher, dass wir selbst mit dem Projekt unserer Vortragsreihe hier einen Unterschied machen können – aber wir werden es immerhin versuchen. Vor allem bin ich gespannt darauf, wie sehr die Beiträger in der Lage sein werden, uns zu zeigen, wie falsch wir liegen; und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch von unserer Zugangsweise zu den Inhalten. Es lässt sich zum Beispiel beobachten, dass die Kultur- und Geisteswissenschaften viel weniger in der Lage sind, Debatten anzustoßen als noch vor wenigen Jahrzehnten – umgekehrt ist die Grenze zwischen Reflexion und Aktion kleiner geworden, und gesellschaftliche Relevanz mancher ‚Public Intellectuals‘ findet sich statt in Debatten in politischen Aktionen wieder. Und wie vielleicht zu Zeiten der Avantgarden vor einem Jahrhundert eröffnet das einen neuen Raum für Überschneidungen von Wissenschaft, Literatur und Kunst. Das kann eine Chance sein: Vor kurzer Zeit fragte man sich noch, ob künstlerische Forschung oder eine Annäherung der wissenschaftlichen Prosa an literarische Formen die Zukunft wären – ein Versprechen, das sich meines Erachtens nie wirklich einlösen ließ, nun aber, unter gewandelten Umständen, vielleicht eine neue Chance hat. Das Risiko des Being Wrong wäre damit aber nicht ausgeräumt, sondern eher verschärft.

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    Gjorgje Jovanovik, Waiting for the latest breaking news, 2020, acrylic on MDFThe painting (created in the first year of Covid-19 Pandemic) is part of a larger multimedia installation that aims to make tangible our reality as a result of our collective failure to overcome frustrations, nationalism and xenophobia, greed, and irresponsibility.

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