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RASSISMUS, UNDERCOMMONS UND DIE REPRÄSENTATIONSFLÜCHTIGE KRAFT DES AFFEKTIVEN

Was ist die Basis von Rassismen?

  • Jun 08 2020
  • Çiğdem Inan
    Çiğdem Inan ist Soziologin. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Ihre Lehr- und
    Forschungsschwerpunkte sind: Affekttheorien, Poststrukturalismus, Kritische
    Migrationssozio­logie, Gender Studies und Postcolonial Studies.

Europas strukturelle Rassismen haben sich zunehmend mit biopolitischen Fragen des Lebens, dessen Mobilisierung und Regulierung verbunden. Dabei sind sie durch eine hohe Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Entwicklungen gekennzeichnet, die mannigfache Mobilisierungs- und Steuerungsmechanismen von Affekten umfassen. Sie stehen unter einer Serie geschichtlicher Bedingungen, vor allem der Krise der Arbeitsgesellschaft und der finanzkapitalistischen Regulation, des präemptiven Kriegs gegen den Terror und einer damit einhergehenden Vervielfältigung von Migrationsanlässen und -formen. Der aus diesen Bedingungen entstehende „postliberale Rassismus“ (1) , der sich in der Trope gescheiterter Multikulturalität und eines bedrohlichen „Exzesses an kultureller Diversität“ (2) ausdrückt, gründet auf affektambivalenten Operationen. Insbesondere im Kontext des antimuslimischen Rassismus herrscht eine doppelte Affektartikulation: einerseits eine sich in Moralpaniken ausdrückende Angstkommunikation, die rassistische Bedrohungsszenarien heraufbeschwörend Akzeptanz für neue Grenzziehungen und restriktive Migrationssteuerungen schafft; andererseits utilitaristische Integrationsanforderungen, die unter dem Primat neoliberaler Selbstmobilisierung diese Grenzziehungen auf einen „differentiellen Einschluss“ (3) öffnen, indem sie Handlungsvermögen sowohl anreizen als auch regulieren. 


Diese doppelte Affektmodulation entspringt einer paradoxen Verschränkung des neoliberalen Dispositivs postmigrantischer Gesellschaften mit einem illiberalen Dispositiv, das die nationalistische Figur „essentieller Wertegemeinschaften“ (4) in rassifizierenden Spielarten erneuert. Der Übergang vom Gastarbeiter- zum Alteritäts-Regime setzt einen Integrationsdiskurs in Gang, in dem sich in rassifizierender Tradition auf Defizite, Unwilligkeiten und Unfähigkeiten von Migrant*innen bezogen wird. Individualisierend und kulturalisierend werden sie auf ihre gesellschaftliche Teilhabefähigkeit überprüft. Als besonderes Kennzeichen aktueller Rassismen ergibt sich demnach die ambivalente Ko-artikulation neoliberaler Öffnungen und postliberaler, kulturalisierender Schließungen der Migrationspolitiken. Affektlogisch gesehen, überlagert sich ein kapitalistisches Aktivierungsmodell mit rassistischen Fähigkeitshinterfragungen. Rassismuskritisch liegt die Herausforderung in einer Affekttheorie, die sich nicht auf die Analyse neuer rassistischer Formationen innerhalb postliberaler Migrationsregime beschränkt, sondern aus der langen Dauer mehrdimensionaler rassistischer Hierarchisierungen heraus argumentiert. Die Historikerin Laura Ann Stoler (5) betont, dass es keine einfache Abfolge vom starren, biologischen zum fluiden, kulturellen Rassismus gebe und eröffnet eine komplexe Perspektive, die auf wiederkehrende Übergänge und mehrfache Verschränkungen ausgerichtet bleibt. Gegen ahistorische bzw. evolutionistische Ablösungsannahmen behauptet Stoler, dass insbesondere die Verankerung biologistischer Rassenkonstruktionen in den körper-materiellen Praxen einen affektiv überdeterminierten ökonomischen und politischen Rassismus hervorbrachte, in dem sich Naturalisierungen und Kulturalisierungen wechselseitig durchdrangen. Ausgehend von dieser biopolitischen These lassen sich die Konstitutionsprozesse europäischer Rassismen, in ihrer unmittelbaren Verbundenheit mit den Paradoxien moderner (nationaler) Subjektproduktionen begreifen, in denen Autonomie und Heteronomie, Freiheit und Zwang verschaltet sind.

Entscheidend ist, dass die Biopolitik den geschichtlichen Kontext für die Geburt des modernen Rassismus bildete. Der Rassismus fungierte als Grundmechanismus, mit dem in das Kontinuum der Lebenssteigerung die Negativität des Tötens und damit die Zäsur zwischen Nützlichem und Schädlichem immer wieder neu eingeführt und legitimiert worden ist, sodass politische Konflikte in biologische Konflikte übersetzt und naturalisiert werden konnten. Im Kontext der gewalt- und kolonialgeschichtlichen Gründungskrisen europäischer Nationalstaaten, bildet der Rassismus den ausschlaggebenden affektiven Schauplatz, auf dem kapitalistische Widersprüche in der Hervorbringung eines einheitlichen Volkes neutralisiert und durch Identifizierungsprozesse reproduziert wurden. 

Der Philosoph Étienne Balibar verlängert mit dieser These Michel Foucaults Argumentationsfigur biopolitischer Mobilisierung in rassismus- und affekttheoretischer Hinsicht: Die dynamische Stabilität staatlicher Apparate und ihres institutionellen Rassismus wird durch einen „primären“ Prozess massenbasierter Affektivität erklärt, in dessen Verläufen „Liebe und Hass“ (6) mobilisiert und in imaginären Selbst- und Fremdbildern fixiert werden. Als ein staatlich katalysiertes „Massen- und Individuationsphänomen“ (7) übersetzt es die „äußeren Grenzen“ des Staates in die „inneren Grenzen“ (8) einer kollektiven Identität, um die Klassen- und sozialen Kämpfe auf einen Anderen zu projizieren. Das durch den Staat entstellte Verhältnis wird in Form einer fiktiven Ethnizität von den Massen „gelebt“ und im Zusammenwirken mit den ideologischen Staatsapparaten Familie und Schule kontinuierlich neu erschaffen. Diese immanente Ko-Substantialität von Affekten und Institutionen signalisiert Balibar zufolge, dass jede Instituierung nur so stark ist wie die ihr unterliegenden Affektverhältnisse. 

In diesem Materialismus des Affektiven insistiert das Politische in der Problematik der Affektübergänge. Gerade die Exzessivität der Affekte, die deren biopolitische Steuerung erst ermöglicht, kann sowohl Quelle reaktionärer als auch emanzipatorischer Veränderung sein. Obwohl Affekte entlang sozialer Konfliktlinien nationale und rassistische Selbstverständnisse, weiter noch alle identitären Selbstvergewisserungen auf jene Differentialität öffnen können, die ihnen virtuell zugrunde liegen, sind diese Prozesse niemals gesichert und benötigen ambivalenzbewusste soziale Kämpfe und Analysen, wie sie sich u. a. bei Sara Ahmed, Fred Moten und David Harney finden. 

Ahmed thematisiert die negative Politik affektiver Destruktion, die sich in der zähen Beständigkeit rassistischer Phobien artikuliert, deren epidermisch-affektive Zerstörungskraft bereits Frantz Fanon (9) hervorhob. Ahmed analysiert, wie emotionale Ausdrücke – Hass, Wut und Ekel – rassifizierende Affektzirkulationen und -akkumulationen hervorbringen. Rassistische Ressentiments fungieren als „sticky signs“ (10), die in zerstörerischer Performativität betroffene Körper fixieren. Rassistische Politiken der Angst, der Moralpanik und des Hasses verletzen und hemmen die eigenleibliche Orientierung dieser Körper. Ihr „flow“ wird gestoppt, ihr „shape“ (11) verkleinert, sodass der Körper in seiner aufgezwungenen Desorientierung rassifiziert wird. Gleichzeitig besteht Ahmed in dieser phänomenologischen Perspektive auf der Ambivalenz negativer Affekte: Die Desorientierungseffekte können tieferliegende, von rassistischen Zuschreibungen sich ablösende Erfahrungen öffnen, in der existenziale Heimatlosigkeit und eine sich „entziehende“ und „wegrutschende“ Welt (12) von positiver Gestalt sind.

 

Harun Farocki, AUFSTELLUNG (IN-FORMATION) (2005), Video still.

Der spannendste und riskanteste Einsatz einer in ambivalenzbewusster Weise affektlogisch argumentierenden Rassismustheorie liegt darin, die geschichtlich negativste Position – die der Versklavten im Schiffsladeraum – mit dem positiven Vermögen zu verbinden, die Versklavungsökonomie angreifen zu können. Moten und Harney bezeichnen diese Verbindung von Negativität und Vermögen als „Undercommons“ (13). Den Kapitalismus führen sie auf die Subsumption unfreier Arbeitskraft unter Produktionsverhältnissen zurück, die von der Logistik der Middle Passage aus zu denken sind. Die Versklavten sind die ersten global zirkulierenden menschlichen Objekte und Waren, deren enteignete Fähigkeiten und Arbeitsvermögen den Rohstoff kolonialkapitalistischer Akkumulation bilden. Als reines Potenzial von Affekten und Fähigkeiten sind die Verschifften aber auch Modell für die „Dinge“ hinter den Objekten und Waren, die für die Logistik unregierbar bleiben. Der heideggerianisch inspirierte Unterschied zwischen Ding und Objekt, den Moten und Harney hier hervorheben, ist der zwischen bloßer Potentialität (die sich in Bewegung befindet) und kolonialkapitalistisch bestimmter Ware (die transportiert wird). In den Körpern der Verschifften fällt beides, Ding und Objekt, Bewegung und Transport zusammen. Politik aber wird von der „Apositionalität“ derer aus gedacht, denen in der Geschichte kein fester Ort, Sinn oder Anteil zugedacht ist. Die Wirksamkeit negativer Affekte ist das „schreckliche Geschenk des Laderaums“ (14), das Auftauchen eines affektiven Übergangs, der in der Zerbrochenheit bleibt, denn Enteignung wird nicht mehr in Aneignung, Verkennung nicht in mehr in Anerkennung verwandelt. Stattdessen werden gegen die Gewalt geschichtlicher Zerstörung affektive Berührungen erlaubt, in der sich Kräfte und Gefühle miteinander verbinden und steigern, ohne die Existenz zu heilen. Die Politikmächtigkeit dieser Affektivität bestände darin, dass sich niemand in ihr erkennen, also auch nicht verkennen kann. Sie schafft eine Distanz zu allen fiktiven Formen der Wiedererkennung, die stets auf ganze, geheilte, vollständige Entitäten zielen, Formen, die an der Basis aller Rassismen stehen. 



  • FOOTNOTES
    .
    (1) Vgl. Marianne Pieper, Efthimia Panagiotidis, Vassilis Tsianos, „Konjunkturen der egalitären Exklusion: Postliberaler Rassismus und verkörperte Erfahrung in der Prekarität“, in: Marianne Pieper u.a. (Hg.), Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden: VS Verlag 2011, S. 193-226.
    (2) Alana Lentin, „Post-race, post politics: the paradoxical rise of culture after multiculturalism“, in: Ethnic and Racial Studies, 37:8, 1268-1285, S. 1268.
    (3) Manuela Bojadžijev, „Rassismus ohne Rassen, fiktive Ethnizitäten und das genealogische Schema. Überlegungen zu Étienne Balibars theoretischem Vokabular für eine kritische Migrations- und Rassismusforschung“, in: Julia Reuter und Paul Mecheril (Hg.), Schlüsselwerke der Migrationsforschung, Wiesbaden: VS Verlag, 2015, S. 279.
    (4) Vgl. Étienne Balibar, „The Return of the Concept of ‚Race’“, in: springerin 3/2008, https://springerin.at/en/2008/3/die-ruckkehr-des-konzepts-rasse/
    (5) Ann Laura Stoler, Duress. Imperial Durabilities In Our Times, Durham und London: Duke University Press 2016, S. 259-262.
    (6) Étienne Balibar, „Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie“, in ders. und Immanuel Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg: Argument 2014, S. 116.
    (7) Ebd.
    (8) Ebd., S. 117.
    (9) Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt/M: Suhrkamp 1985
    (10) Sara Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, New York: Routledge 2004, S. 92.
    (11) Sara Ahmed, Queer Phenomenology, Orientation, Objects, Others, Durham und London: Duke University Press 2007, S. 158
    (12) Vgl. Sara Ahmed, Queer Phenomenology, S.157-179.
    (13) Stefano Harney und Fred Moten, Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium, Wien: transversal 2016.

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