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RECLAIMING BAROCK

Review über die Wiesbaden Biennale.

  • Review
  • Dec 05 2022
  • Johanna Weiß
    studierte Kulturwissenschaften, Kunstgeschichte und philosophie in Leipzig, Athen und Frankfurt. Sie wohnt in Frankfurt und arbeitet dort als Kuratorin.

Die diesjährige Wiesbaden Biennale fragte nach dem kolonialen Erbe des ehemaligen “Nizza des Nordens” und versuchte eine selbstkritische Auseinandersetzung, die sie trotz mangelndem Budget meistert – durch Priorisierung der Beteiligten und mutige Formate. 

Der Erwartungsdruck war groß für Kilian Engels, der die Nachfolge von Martin Hammer und der 2018 tödlich verunglückten Maria Magdalena Ludewig antrat. Ein wichtiger Veranstaltungsort war das neobarocke Foyer, das 1902 von Kaiser Wilhelm II. an das Hessische Staatstheater angebaut wurde. Sein Gefolge, eine äußerst wohlhabende Oberschicht, sorgte in ganz Wiesbaden für repräsentative Bauten. 

Doch für wen wurden diese Räume ursprünglich gebaut und wie ist ihre Finanzierung mit der koloniale Vergangenheit Wiesbadens verbunden? Können Barockgebäude heute demokratisiert werden? Zum Auftakt sprach die Architektin und Kulturwissenschaftlerin Tazalika M. Te Reh über jenes Foyer: Nur Besucher*innen des Parketts und der ersten beiden Ränge des Theatersaals hatten Zugang. Gäste der unteren Ränge wurden direkt wieder zum Ausgang geleitet. Auf diese Weise blieb die Elite unter sich; Klassenunterschiede manifestierten sich architektonisch.

Nun tanzten Reflektionen mehrerer Discokugeln über das Deckengemälde, das die Beglückung der Menschheit durch die vom Himmel herabsteigenden Kunst darstellt. Aus den Musikboxen tönte Beyoncés neues Album und Menschen bewegten sich dazu. In der Abschlussveranstaltung High Voltage des nigerianischen NEST-Kollektivs, tanzte ein weibliches*, nicht-binäres, trans-identifizierendes Publikum bei einer FLINTA*-Party. An anderer Stelle stellte das Kollektiv im zweiten Kapitel von The Feminine and The Foreign Schwarzen Aktivismus im Gebiet Wiesbaden, Offenbach und Frankfurt vor. 

Die kolonialen Vergangenheit Wiesbadens wurde auch durch die zwei Stadthistoriker*innen Katherine Lukat und Susanne Claußen aufgearbeitet, die Führungen zu Orten anboten, die vom Kolonialismus geprägt sind. Decolonize Wiesbaden, Spiegelbild e.V. und Empowering People e.V. boten Workshops an.

Genreüberschreitende Performances ersetzten den alten Kanon: Trajan Harrels The Köln Concert eröffnete mit der Verbindung zweier gegensätzlicher Tanzstile: Vogueing und Butoh-Tanz. 

Die Performance Sun & Sea von Rugile Barzdziukaite, Vaiva Grainyte und Lina Lapelyte, ließ Besucher*innen Menschen bei einem vermeintlichen Badeurlaub auf einer Bühne aus Sand beobachten. Die Opernsänger*innen unter ihnen übten subversiv Kritik. Bei Spoonfed, einer multisensorische Arbeit von Nitish Hain, wurden die Besucher*innen von je einer Performer*in betreut. Mit Gerüchen, Essen und Gegenstände fühlte man sich buchstäblich in die zu hörende Geschichten ein und „erforsch[te] Zärtlichkeit und Fürsorge durch Berührungen“

Führten diese Formate zu einer Demokratisierung des neobarocken Kitsch? 

Ja: Neben der Reflektion der Architektur und des kolonialen Erbes wurden anstelle von Großbürger*innen und Adel gezielt People of Color und queere Personen eingeladen, um den Raum für sich zu nutzen. Wurde das Geschenk der Kunst aber auch dem gewöhnlichen Wiesbadener Publikum gemacht? Diesmal blieb es dem Festival fern. Engels stand nur ein Drittel des gewöhnlichen Budgets zur Verfügung. Es war richtig, es in diverse Teilnehmer*innen zu investieren statt in ein Vermittlungsprogramm. 

So haben viele Wiesbadener die poetischen, ausdrucksstarken und kämpferischen Inszenierungen verpasst. Doch vielleicht wächst ein neues Publikum heran. Um es mit Beyoncés Lyrics auszudrücken: "I'm building my own foundation / You won't break my soul” [Ich errichte mein eigenes Fundament / Du wirst meine Seele nicht zerstören].

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  • IMAGE CREDITS
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    Alexandra Bachzetsis 2020: Obscene © Melanie Hofmann.

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