Massive Rodungen führen im 9. Jahrhundert in Zentralamerika zu einem Rückgang der Niederschläge, es kommt zu verheerenden Dürren, die hoch entwickelte Mayakultur kollabiert. Bodenerosion, Nahrungsmangel und schließlich Zusammenbruch der Kultur sind auch die Folgen einer radikalen Entwaldung der Osterinsel im 13. Jahrhundert [1]. Die Geschichte kennt zahlreiche solcher Fälle des Zusammenbruchs von Zivilisationen aufgrund von Umweltzerstörung; Beispiele gelungener Transformation finden sich seltener. Eines davon ist die japanische Edo-Periode. 250 Jahre lang wirtschaftete Japan erfolgreich ohne äußere Energie- und Ressourcenzufuhr. Ausgehend von dem historischen Modell der Edo-Zeit untersuchte das interdisziplinäre Symposium ReEDOcate ME! im Januar 2022 in der Akademie der Künste und im Goethe-Institut Tokio Denk- und Gestaltungsräume einer ökologischen Transformation.
Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden, heißt es in Hans Jonas’ Das Prinzip Verantwortung von 1979. Über 40 Jahre später, fünf Jahre nach Unterzeichnung des Pariser Klimaschutzabkommens, müssen wir feststellen, dass die beschlossenen Maßnahmen weder ausreichen, um angemessen auf die ökologische Krise zu reagieren, noch überhaupt umgesetzt werden. Wir wissen, dass unsere Zivilisation auf dem Spiel steht, doch Wissen und Handeln klaffen weit auseinander. Und obwohl die Künste mit ihrem breiten gesellschaftlichen Einfluss in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen könnten, kommen auch hier die notwendigen Transformationsprozesse nur schleppend in Gang. Der Titel des Symposiums spielt mit dem Begriff Re-Education, dem Programm der damaligen US-Regierung, das mit Mitteln aus Bildung, Kunst, Literatur und Unterhaltung eine geistige Entnazifizierung Deutschlands (und Japans) vorangetrieben hat. Kulturelle Angebote wie Podiumsdiskussionen, Filmvorführungen, Hörfunksendungen und Wanderausstellungen sollten autoritäre, rassistische Einstellungen verdrängen und im Rückgriff auf humanistische Traditionen ein positives Verhältnis zur Demokratie anstoßen. Anders als durch ein grundsätzliches Umlernen und Umdenken, das auch auf eine radikale Veränderung unserer Alltagskultur zielt – so die These –, sind auch wir nicht zu retten. Welche Rolle könnten die Künste dabei spielen?
Der japanische Sonderweg der Edo-Zeit beginnt im 17. Jahrhundert: Die kolonialen Bestrebungen der europäischen Großmächte werden zunehmend als Bedrohung empfunden. Ein Aufstand christlicher Bauern und Samurai im Jahr 1639 bietet Anlass, das Christentum zu verbannen und jeglichen Kontakt mit dem Ausland zu verbieten. Folge der drakonischen Selbstisolation in Verbindung mit einer regen feudalen Bautätigkeit ist nicht nur ein akuter Mangel an Energie und Rohstoffen: Im Zusammenhang mit großflächigen Abholzungen der japanischen Wälder kommt es immer häufiger zu Überschwemmungen, zu Dürren, zu Nahrungsknappheit [2]. Für die japanische Gesellschaft beginnt damit ein Experiment: Während die westliche Industrialisierung ab Mitte des 18. Jahrhunderts den Energie- und Ressourcenverbrauch der Menschheit durch den Einsatz fossiler Brennstoffe radikal verändert, ist der Preis japanischer Eigenständigkeit der Verzicht auf externe Energie und Ressourcen. Da es auf den Inseln keine nennenswerten Kohlevorräte gibt, bedeutete dies, fast ausschließlich auf der Grundlage von Sonnenenergie zu wirtschaften. Abgesehen von Eisen und einigen anderen Metallen werden nur noch nachhaltige, pflanzliche Stoffe verwendet. Da die Produktionsrate durch das natürliche Wachstum der Pflanzen begrenzt ist, steht Material allerdings nie im Überfluss zur Verfügung. Lange bevor diese Begriffe im Westen bekannt werden, ist die Antwort der Edo-Zeit ein ausgeklügeltes Recycling- und Reparatursystem. Gleichzeitig beginnt ein gezieltes Aufforstungs- und Bodenverbesserungsprogramm, bei dem die feudale Regierung in einer Art Joint Venture mit privaten Forstunternehmern zusammenarbeitet [3]. Bei einer relativ hohen Bevölkerungsdichte (etwa doppelt so hoch wie die heutige Weltbevölkerungsdichte) gelingt es, die Waldflächen auf den Inseln zu vergrößern und den Boden fruchtbarer und ertragreicher zu machen. Und auch wenn es in Folge von Missernten immer wieder zu Hungersnöten kommt, sind der allgemeine Lebensstandard und die Lebensqualität in Japan höher als in anderen asiatischen oder westlichen Ländern. Auf Grundlage einer gesteigerten landwirtschaftlichen Produktivität entwickelt sich eine äußerst lebendige urbane Kultur. Die Alphabetisierungsrate liegt deutlich über derjenigen europäischer Länder der Zeit. Handwerk und Künste erleben eine Blüte [4]. Die Zeugnisse der Edo-Kultur gelten bis heute als typisch japanisch. Ihren Ursprung hatten sie jedoch in der akuten Ressourcenkrise: Tatami, Kimono, Papierwände, sogar Sushi gehen auf die Notwendigkeit zurück, ressourcenschonend und energiesparend zu wirtschaften.
Das Japan der Edo-Zeit war eine agrarische Gesellschaft. Es ist weder möglich noch wünschenswert, zu einer vorindustriellen Gesellschaft zurückzukehren. Klar ist aber auch, dass wir – wollen wir als Zivilisation überleben – das Niveau unserer Ressourcennutzung so nah wie möglich der vorindustriellen Zeit annähern müssen. Umso interessanter ist es, sich nach historischen Vorbildern umzusehen: Die Edo-Zeit kann hier als Modell einer Welt dienen, deren Ressourcen begrenzt und inzwischen nahezu erschöpft sind. Ungünstig wirkt sich ein eurozentrisches Fortschrittsnarrativ aus, das geradezu reflexhaft jede Frage nach Begrenzung negiert. Wie wir „Wirtschaft“, „Fortschritt“ und „Entwicklung“ verstehen, und wie wir daher über die Vergangenheit, aber auch die Zukunft unserer Gesellschaft nachdenken, ist zutiefst geprägt durch den fossilen Kapitalismus. Eine auf technische Innovation, Wirtschaftswachstum und Globalisierung verengte Fortschrittsperspektive verhindert die Entwicklung nachhaltiger Wirtschaftsmodelle [5]. Möglicherweise sind diese Perspektiven unserer Wirtschaftsform allerdings grundsätzlich eingeschrieben. Ein Kapitalismus ohne technische Innovation und Wachstum scheint undenkbar oder ist zumindest gibt es bislang noch kein Beispiel dafür. Das Ende fossiler Energien, die Einführung einer Kreislaufwirtschaft wären gleichbedeutend mit dem Ende des Kapitalismus. „In einer klimaneutralen Wirtschaft müssten sich Millionen von Arbeitnehmern umorientieren, zum Beispiel würden sehr viel mehr Menschen in der Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern“, so die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann [6]. Damit ließe sich allerdings kaum Geld verdienen.
Da ein Großteil des heutigen Energieverbrauchs von Strukturen verursacht wird, die die gesellschaftliche Grundversorgung gewährleisten, kann Nachhaltigkeit heute allerdings nicht durch eine Re-Education einzelner Individuen – etwa durch Appelle zu Konsumverzicht und dergleichen – erreicht werden, sondern es braucht Gesetzgebungen und Rechtsverordnungen. Auch hier lohnt ein Blick in die Edo-Zeit [7].
Unsere grundlegende Beziehung zur Welt ließe sich in Krieg und Besitz zusammenfassen, schreibt Michael Serres. Und: „Die Bilanz der Schäden, die der Welt bis auf den heutigen Tag zugefügt worden sind, kommt den Verheerungen gleich, die ein Weltkrieg hinterlassen hätte“ [8]. Die internalisierte Wachstumslogik, die zu diesem Kriegszustand geführt hat, zeigt sich auch in Debatten im Kunstbereich: Eine notwendige Transformation wird vielfach mit Verzicht und Askese gleichgesetzt oder gar als Angriff auf die Kunstfreiheit erlebt. Dabei orientierten sich gerade europäische Architekten der Moderne wie Bruno Taut, Walter Gropius oder Werner Düttmann, der Architekt des Akademiegebäudes am Hanseatenweg, an der reduzierten japanischen Edo-Architektur. Der Zwang zur Reduktion führte offenbar zu raffiniertem Materialeinsatz und einer besonderen Sinnlichkeit der Ästhetik [9]. Es stellt sich also die Frage, ob und unter welchen Umständen Prinzipien der Reduktion, der Vereinfachung, der Wiederverwertung und der Entschleunigung Innovationen in der Kunstproduktion begünstigen können. Auf dem im Oktober 2022 in der Floating University geplanten ReEDOcate ME! Festival werden Künstler*innen wie Michikazu Matsune, Toshiki Okada, Rosalind Krause/Areal B, Andreas Kreiner, Nagara Wada, Akira Takayama, Metis Arts, raumlabor, Christophe Meierhans, Sachiko Hara und les dramaturx in eigens entwickelten Formaten Antworten darauf suchen. Während im historischen Japan gesetzliche Normen offenbar zu gesellschaftlicher und künstlerischer Innovation führten, will das Festival umgekehrt Impulse für Gesellschaft und Politik setzen.
Die Edo-Zeit endet für Japan traumatisch: Am 8. Juli 1853 laufen vier amerikanische Kanonenschiffe in die Bucht von Edo, dem heutigen Tokio, ein. Die schwarzen Rauchwolken, die sie ausstoßen, und die Fähigkeit, ohne Windkraft und Segel zu manövrieren, lösen einen Schock aus. In der Edo-Epoche hatte Japan sogar auf die weitere Entwicklung von Feuerwaffen verzichtet, deren Technologie aus Europa importiert und in den Bürgerkriegen des 16. Jahrhunderts bereits benutzt worden war. Es ist dies der einmalige Fall, dass eine hochgerüstete Militärmacht eine überlegene Technologie aufgab und zu traditionellen Waffen zurückkehrte. 250 Jahre lang hatte das Land keinen Krieg erlebt. Mit Ankunft der vier Kanonenschiffe wird die militärtechnische Unterlegenheit Japans schlagartig klar. Matthew Perry, der die Schiffe kommandiert, weigert sich, die Bucht wieder zu verlassen und droht, mit seinen Geschützen die Hauptstadt Edo zu zerstören. Er führt ein Schreiben des amerikanischen Präsidenten mit sich, in dem die Öffnung der japanischen Häfen für amerikanische Handelsschiffe gefordert wird. Perry macht klar, dass Amerika nur eine positive Antwort akzeptieren wird. Ein Jahr später kehrt er mit acht Kriegsschiffen zurück und zwingt Japan den „Vertrag über Frieden und Freundschaft“ auf, der das Ende der Edo-Zeit und damit eines 250-jährigen japanischen Sonderwegs besiegelt. Verträge mit anderen westlichen Mächten folgen – so unter anderem 1861 der preußisch-japanische Handelsvertrag. Japan wird nicht nur Teil einer globalisierten, kapitalistischen Ökonomie, es beginnt eine beispiellose Aufholjagd, um den technologischen Rückstand gegenüber den westlichen Kolonialmächten zu verringern. Die dazu benötigten Rohstoffe verschafft es sich – ganz nach westlichem Vorbild – durch die Kolonisierung Koreas und der Mandschurei.
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Christian Tschirner ist leitender Dramaturg an der Schaubühne Berlin. Nach seiner Ausbildung zum Tierpfleger im Zoo Leipzig studierte er an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Seither arbeitet er als Schauspieler, Autor, Regisseur und Dramaturg.
ReEDOcate ME!
Konzeption: Benjamin Baldenius-Förster, Aljoscha Begrich, Christian Tschirner, Makiko Yamaguchi
Produkionsleitung: Elisa Leroy
Mit: Azby Brown, Künstler, Architekt, Autor, Nicholas Bussmann, Komponist, Michaela Christ, Leiterin des Forschungsbereichs Diachrone Transformationsforschung am Norbert Elias Center for Transformation Design & Research an der Universität Flensburg, eat&art taro, Künstler, Fritz Frenkler, Industriedesigner, Direktor der Sektion Baukunst an der Akademie der Künste Berlin, Ulrike Herrmann, Wirtschaftsjournalistin und Publizistin, Toshikatsu Ienari, Architekt, dot architects, Daigo Kosakai, Kurator am Edo-Tokyo Museum, Bastian Reiber, Schauspieler und Regisseur, Sampo Inc, Architekten, Matthias Schmelzer, Wirtschaftshistoriker und Klimaaktivist, Yuko Tanaka, Präsidentin der Hosei University, Tokyo, Andres Veiel, Film- und Theaterregisseur, Nagara Wada, Autorin und Künstlerin.
Eine Kooperation von: Akademie der Künste, Berlin, Goethe-Institut Tokyo, Japan Foundation, Kyoto Experiment Festival, Schaubühne Berlin, Floating University Berlin
14.10 – 23.10.2022 Floating University Berlin
ReEDOcate ME! Festival
Performance, Lecture, Diskussion, Partizipation
https://reedocate-me.com
- Footnotes
[1] Vergleiche Adam Voiland und Maria José-Viñas, „Ancient Dry Spells Offer Clues About the Future of Drought“, NASA Features (5.12.2011) zum Pre-Columbian Collapse der Maya; „Warum die Maya-Kultur unterging“, Focus online(24.2.2012); Jared Diamond, Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt am Main 2005.
[2] Professor Yuko Tanaka auf dem Symposium ReEDOcate ME!
[3] Daigo Kosakai auf dem Symposium ReEDOcate ME!
[4] Susan B. Hanley, Everyday Things in Premodern Japan, Oakland 1997.
[5] Matthias Schmelzer auf dem Symposium ReEDOcate ME!
[6] In ihrem Vortrag auf dem Symposium ReEDOcate ME! Siehe auch Ulrike Herrmanns Beitrag in dieser Ausgabe.
[7] Michaela Christ auf dem Symposium ReEDOcate ME!
[8] Michel Serres, Der Naturvertrag, Frankfurt am Main 1994, S. 59.
[9] Fritz Frenkler und Azby Brown auf dem Symposium ReEDOcate ME!
Image credits
Cover: Yamagata S.shin (1818–1862), Prozession von Insekten als Feudalherren H.ngerolle, Edo-Zeit, erste H.lie des 19. Jahrhunderts. Copyright & Courtesy: Sammlung Viktor & Marianne Langen