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WAS KOSTET DIE WELT?

  • Jul 28 2021
  • Sabine Oberhuber, Thomas Rau
    begannen die Suche nach einer nachhaltigen Beziehung zwischen Mensch und Erde vor Jahren, geboren aus einem starken Gefühl der Notwendigkeit. Sie formulierten Probleme, Lösungen und Ideen und verwendeten diese in ihren Unternehmen Madaster, Turntoo und RAU Architekten, um praktische Konzepte zu entwickeln. In ihrem 2016 erschienen Buch „Material Matters“ zeigten sie auf, wie die Transformation hin zu einer Circular Economy und Circular Society aussehen könnte. Viele dieser Konzepte und Lösungen werden sowohl von der Gesellschaft als auch von der Geschäftswelt begeistert angenommen.

Mit der öffentlichen Materialplattform Madaster und vielen weiteren Entwicklungen im Bereich der Architektur und darüber hinaus haben Thomas Rau und Sabine Oberhuber einen grundlegenden Beitrag zu Trans- formationsprozessen im Umgang des Menschen mit der Natur geleis- tet. Die Ökonomin und der Archi- tekt blicken auf die letzten 70 Jah- re zurück und erklären den Zusam- menhang zwischen der Einführung von Materialrechten, dem Ende der Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt und der gerechten Vertei- lung des Welteinkommens.                   

THOMAS RAU: 1968 wurde das erste Foto von der Erde aus dem Welt- all und der Perspektive des Mondes aufgenommen. Dieser Moment brach- te einen Wendepunkte in der Menschheitsgeschichte: zum ersten Mal sahen Menschen den Ort auf dem sie leben in seiner Gesamtheit.

SABINE OBERHUBER: Dieses Foto bekam den Namen Earth Rise. Erdaufgang, eigentlich ein wunder- schöner Begriff, der im doppelten Sinne die Bedeutung dieser Aufnah- me beschreibt.

TR: Durch dieses Foto wurde dem Menschen bewusst, dass die Erde ein geschlossenes System und alles end- lich und limitiert ist, auch alle Mate- rialien. Die Vorstellungen wandelten sich, man verstand, dass alles nur zeit- lich begrenzt ist, insbesondere unsere Bedürfnisse, und somit auch jede Ant- wort darauf. Architektur ist eine sol- che Antwort.

                       

MADASTER & MATERIALPASS

TR: Abfall oder Müll war früher Material, das ohne Identität in die Anonymität gekommen und als unbrauchbar deklariert worden war. Um Abfall zu verhindern oder zu elimi- nieren, gab man vor 20 Jahren allen Materialien eine limitierte, dokumen- tierte und archivierte Identität. Einen so genannten Materialpass, ohne den man heute keine Baugenehmigung mehr bekommt. 2013 sind die ersten Gebäude mit sehr einfachen Materi- alpässen ausgestattet worden, das wa- ren damals noch große Excel Datei- en. Um das Dokumentieren von Ma- terialien zu professionalisieren bzw. zu standardisieren, wurde im Jahre 2017 in Anlehnung an das Kataster (eine Bibliothek für die Begrenztheit der Oberfläche der Erde) eine digitale öffentliche Plattform, das Madaster, gegründet: eine Bibliothek für die Be- grenztheit aller Materialien der Erde.
Wir wissen jetzt endlich, welche Materialien es auf dieser Erde gibt und wo sie sich gerade befinden. Das Ziel ist auch alle zukünftigen Genera- tionen in die Lage zu versetzen, ihre zeitlichen Antworten auf ihre zeitli- chen Bedürfnisse mit denselben Ma- terialien bedienen zu können wie wir heute. Madaster hält fest, welche Ma- terialien sich in einem Gebäude be- finden, woher sie kommen und kalku- liert ihren finanziellen Zukunftswert. So haben Bauherren und Architekten die Möglichkeit, Gebäude so zu ent- werfen bzw. entwerfen zu lassen und zu bauen, dass der maximale Werter- halt aller Materialien, welche für die Realisierung des Gebäudes notwendig sind, gewährleistet ist.
Anfänglich waren es idealistische Motive, die einzelne Akteur*innen in der Baubranche dazu bewogen haben, Madaster zu unterstützen, aber man erkannte schnell, dass es auch von fi- nanziellem Interesse ist, den Wert von Material zu erhalten. Bis 2020 war es noch Pflicht, die Gebäude bis 0 % ab- zuschreiben. Heute dürfen Gebäude nicht mehr nach 0 % abgeschrieben werden, sondern höchstens bis zum minimalen Wert ihrer verbauten und registrierten Materialien. Auch gesellschaftlich setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Materialerhalt ein wichtiges Zukunftsthema ist. So wurde der Materialpass durch den Gesetzgeber im Jahr 2021 verpflichtend als einer der Bausteine eines neuen Wirtschaftssystems eingeführt. Das Corona Virus hat damals erste Systemveränderungen bewirkt und uns gezeigt, dass es im Leben noch andere Werte gibt als Geld.

SO: Schon vor der Corona Krise dämmerte es Unternehmen allmählich, dass ihnen die sogenannte Res- sourcenknappheit gefährlich wer- den könnte. Auch Verbraucher*innen wurden argwöhnisch: die geplante Obsoleszenz, der geplante Verschleiß von Produkten, welche ausschließlich darauf ausgerichtet waren das wirt- schaftliche Wachstum anzukurbeln, ging schließlich auf ihre Kosten. Die- se Spirale drehte sich, getrieben durch die damalige neoliberale, ausschließlich auf finanzielles Wachstum orien- tierte Wirtschaft, immer schneller. Es war völlig normal geworden, Konsumgüter alle paar Jahre wegzuwerfen, Reparaturen waren meist teurer als ein neues Gerät. Auch auf politi- scher Ebene wurde eingesehen, dass durch Gesetzgebung gegengesteuert werden musste. Gleichzeitig ver- standen Produzent*innen, dass es sinnvoller ist, langlebige Produkte zu produzieren und diese zu vermieten, um letztlich die verbauten Rohstoffe in Form ihrer ausgedienten Produkte wieder zurückbekommen. Wie schon Walter Stahel voraussagte „sind die Produkte von heute unsere Rohstoffe von morgen – für die Preise von ges- tern“. Heute sind Produkte langlebi- ger und können aufgewertet werden, wenn es neue technische Innovationen gibt. Wenn sie ausgedient haben, werden sie an den Hersteller zurück- gegeben. Diese Dienstleistungen sind heute selbstverständlich.

TR: In den 2020er Jahren sattelte die deutsche Automobilindustrie auf Elektrofahrzeuge um. Um die geplan- te Flotte bauen zu können, hatte allei- ne Volkswagen im Jahre 2019 jedoch schon einen Bedarf an 130.000 Ton- nen Kobalt. Die Weltproduktion an Kobalt war damals insgesamt aber nur 124.000 Tonnen. Es musste ein Weggefunden werden Kobalt in permanenten Kreisläufen zu halten. So lag es nahe, Kobalt ausschließlich zur Nutzung zu vermieten, das heißt, als Service anz u b i e t e n . Schließlich verständigte sich die gesamte deutsche Automobilindustrie darauf, gemeinsam  begrenzte Rohstoffe auf diese Weise zu organisieren. Ein Meilenstein in der Geschichte: Anstelle das Eigentum von Material zu verhandeln, wurde Material nur noch als Service angeboten. Das erforderte auch die Notwendigkeit, Produkte als Service anzubieten. Was wiederum bedeutete Produkte so zu entwerfen, dass sie ein Materialdepot sind und es möglich ist, die Rohstoffe aus dem Produkt zurück zu gewinnen, wenn es nicht mehr benutzt werden kann. Schließlich haben die Produzent*innen sich diese nur ausgeliehen.     

              

GEBÄUDE ALS MATERIALDEPOT

SO: Großunternehmen haben ihre Spielregeln angepasst. Das war ein Wendepunkt hin zu einer neuen Un- ternehmenspolitik und -kultur. Letzt- endlich geht es um die Freiheit und die Verantwortung des Individuums sich einen eigenen Kompass zu ge- ben. Klimaaktivist*innen wie Greta Thunberg mobilisierten in den späten 2010er Jahren die Zivilgesellschaft dahingehend nachhaltig. Dank ihnen ist es nicht mehr akzeptabel, Gewin- ne auf Kosten der Gesellschaft zu ma- chen. Sie müssen zu ihren Gunsten er- wirtschaftet und geteilt werden.                   

TR: Architektur hat damit aufgehört ein materialisiertes Geschäftsmo- dell zu sein. Sie bleibt eine Dienstleis- tung für die Welt, in der sich die Be- ziehung zwischen den Menschen und der Welt zeitlich manifestiert. Die Ge- sellschaft verlangt Architekt*innen eine andere Haltung ab und führt so auch zu einer anderen Ästhetik, die sich sowieso mit jeder neuen Einsicht oder Anforderung an eine Situation ändert. Das ist kein neues sondern ein beständiges Phänomen. Bauen bedeutet heute, dass jedes Gebäude ein Materialdepot ist, dem wir in Zukunft alle Materialien ohne Wertverlust wieder entnehmen kön- nen müssen. Wenn ich diesen Depot- gedanken in Architektur übersetze, muss ich eine Architektur entwerfen, die wieder vollkommen zu demontie- ren und zu remontieren ist. Ich muss während des Entwurfs darüber nach- denken, was mit einem Detail, einer Komponente, passiert, wenn niemand mehr dieses Gebäude haben möchte. Das sind ganz neue Anforderungen an den Entwurf.
Ein „Bauunternehmen“ war bis in die 2020er Jahre für viele noch ein in- teressantes Geschäftsmodell, bis wir realisierten, dass wir gar nicht mehr im ursprünglichen Sinne bauen. Die damalige Architektur hat dazu geführt, dass man einen logistischen Prozess organisiert, mit einem Gebäude als Endresultat. Wenn ich heu- te einen logistischen Prozess organi- siere, denke ich im Vorhinein darüber nach wie ich etwas zusammensetzen und im Nachhinein wieder auseinan- dernehmen kann.
Madaster wurde ein hilfreiches Entwurfstool für Architekt*innen, die sich damit anfangs schwer getan haben. In dem damaligen Architektur- Business war es nicht üblich, sich ge- sellschaftlich für die Art und Weise, wie und womit man Gebäude entwor- fen hat, rechtfertigen zu müssen. 2023 wurde die Anfertigung von einem Ma- terialpass für alle in einem Gebäude verbauten Materialien europäisches Gesetz.   
Das Tragische an der Architektur in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts war natürlich, dass Gebäu- de nicht als Depot gebaut wurden. In dieser Zeit haben wir leider viele Ma- terialien, die uns zur Verfügung stan- den, verloren oder können sie nur be- grenzt wieder verwenden bzw. finden. Davor, bis zur Industrialisierung, hat- te man nur so gebaut, dass man alles wieder auseinandernehmen konnte. Alles war handwerklich hergestellt.

Wenn wir heute in der Rückwärts- richtung etwas inventarisieren, das es schon längst gibt, das aber nicht so or- ganisiert ist, dass man Material ohne weiteres zurückgewinnen kann, dann ist es eine Mine. Altbestand ist quasi eine Material-Mine, während heutige Gebäude Materialdepots, bzw. Mate- rialbanken sind, weil sie bewusst so entworfen sind.

                       

MATERIALRECHTE

TR: Am 10. Dezember 2018 wur- de die Universale Erklärung der Ma- terialrechte den Vereinten Nationen in New York übergeben und hat inzwi- schen Einzug in die Rechtsprechun- gen vieler Länder gehalten. So wie der Mensch ein Recht auf Würde und Souveränität hat, hat Material heu- te ein Recht auf Erhalt und Reinheit. Der damalige Zustand „Abfall“ war schlichtweg unwürdig. Für damals bestehende Gebäude aus dem 20. Jahrhundert war das jedoch zu spät. Die meisten der damals verwende- ten Materialien sind unbrauchbar ge- macht worden oder haben nur noch einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Qualität bzw. Identität. Seitdem der Mensch auf der Erde ist hat die Ar- tenvielfalt abgenommen. Jetzt werden wir damit konfrontiert, dass durch den Eingriff des Menschen in den Erdor- ganismus auch die „Materialvielfalt“ abgenommen hat.         

SO: Ein weiterer, wichtiger Artikel in den Materialrechten ist, dass je- des Material ein Recht auf Forschung hat. Auf dieser Basis wurde eine ganz neue Chemie- und Metallkunde ent- wickelt. Dies ermöglichte, Prozesse, die im 20. Jahrhundert in Gang gesetzt wurden, teilweise wieder rückgängig zu machen und gewisse Materialien zurückzugewinnen. Genauso wie die Biodiversität, die wir langsam wieder aufbauen, wird auch in der Materialwelt allmählich repariert, was wir an- gerichtet haben.

Das Problem war das damalige neo- liberale Denken, das sich in alle ge- sellschaftlichen Bereiche eingenis- tet hatte, bis hin zu extrem verdreh- ten intellektuellen Konstrukten. Man ließ nicht diejenigen, die die Natur vernichteten, für ihre Wiederherstel- lung bezahlen, sondern durch steuerli- che Abgaben der Gesamtbevölkerung beispielsweise Filteranlagen großer Unternehmen aufrüsten. Die Um- weltzerstörung nannte man „externe Effekte“, für die Unternehmen kei- ne oder nur begrenzte Verantwortung übernahmen. Anstatt CO2 abzufangen oder auf CO2 freie Produktion umzu- stellen, konnte man irgendwo Wälder aufforsten, die dann wiederum intak- te Ökosysteme vernichteten. Das war eine sehr eigenartige Weise, in der wir damals unser Wirtschaftssystem organisiert haben.

TR: Bis in die 2020er Jahre war Nachhaltigkeit ein großes Thema. Ir- gendwann jedoch entstand das Be- wusstsein, dass Nachhaltigkeit eigent- lich nur das Bestehende optimalisiert und so niemals zu einer Systemver- änderung führt. Zirkuläre Ökonomie hingegen optimiert nicht ein dysfunk- tionales System, sondern entwirft ein neues entlang der Achse der Verant- wortung. Jede*r ist verantwortlich für die Konsequenzen ihres*seines eige- nen Handelns.

TR: Politik muss organisieren was notwendig ist. Das kann viel Geld kosten und lässt sich nicht wie ein Ge- schäftsmodell behandeln. Nun haben sich Regierungen endlich darauf be- sonnen, dass sie keine Unternehmen sind, sondern verantwortlich für das Wohlergehen ihrer Bürger*innen, was zu einer Vielzahl von Gesetzesinitia- tiven geführt hat. Gesetze sind Inst- rumente die das wünschenswerte Zu- sammenleben der Menschen untereinander und mit der Natur organisieren. So waren die wirtschaftlichen Folgen der weltweit verhängten Notstandsge- setze im Zusammenhang mit der Corona Krise Konsequenzen eines poli- tischen und nicht eines unternehmeri- schen Denkens.

SO: Die Corona Krise hat 2020 in- nerhalb von zwei Monaten die gan- ze Welt auf den Kopf gestellt. Sie hat allen bewusst gemacht, dass die Zu- kunft im Zweifelsfall viel schneller da ist, als wir uns das vorstellen konnten, und dass wir unser Handeln und un- sere Parameter an ihr ausrichten müs- sen. Im Zuge der Krise begann auch die Politik sich mit Hilfe von wissen- schaftlich basierten Zielen allem was zukünftig möglich war verantwor- tungsbewusster anzunehmen.

                       

ROHSTOFFVERLEIH ALS GARANT PERMANENTER ZAHLUNGSSTRÖME

TR: Lokale Maßnahmen müssen in einem globalen Kontext abgewo- gen und ergriffen werden. Mit Hilfe von digitalen öffentlichen Plattformen wissen wir jetzt, was global zur Verfü- gung steht und lokal verbaut werden kann. Inzwischen sind Rohstoffminen leer. Alle Materialien, die in den Mi- nen waren, sind in den Wirtschafts- kreislauf gelangt. Die ganze Welt ist nun eine Mine geworden. Das bedingt eine globale Vernetzung, um die lo- kalen Bedürfnisse überhaupt noch be- dienen zu können.

SO: Leere Minen wären in dem früheren Modell für rohstofffördern- de oder -produzierende Länder eine Katastrophe gewesen. Aber glückli- cherweise wurde durch das Material -als-Service-Modell nicht nur bei Pro- dukten von Besitz auf Nutzung um- gedacht, sondern auch bei Rohstof- fen selbst. Es wurde ein System ent- wickelt, in dem Rohstoffe nur noch als eine Art Erbpacht-Konstruktion genutzt werden, und nicht mehr ver- braucht, sondern lediglich leihweise zur Verfügung gestellt werden dürfen. Jedes Unternehmen, jede*r Nutzer*in muss Gebühren für Nutzungsrechte an diesen Rohstoffen abführen. Dieser Geldstrom fließt zurück in die damals rohstoffexportierenden Länder.  

TR: Diese Minen wurden zu Bib- liotheken für Materialien. Rohstof- fe und Materialien werden verliehen, wobei die Gewinne aus dem Verleih in den jeweiligen Ländern verbleiben. Diesem Modell haben wir es zu ver- danken, daß es heute fast keine der damals sogenannten Entwicklungs- länder mehr gibt.

SO: Durch die Umstellung des Sys- tems gibt es jetzt Instanzen, die da- für sorgen, dass mit den Erlösen nicht korrupte Regime finanziert werden, sondern in lokale Strukturen inves- tiert werden kann. Die gerechtere Ver- teilung des Welteinkommens kommt unmittelbar der Bevölkerung zugute. Auf diese Art und Weise ist das Uni- versal Basic Income als weltweites, gerechtes System entstanden.

TR: Ja, aber nicht nur als univer- sales, sondern als bedingungsloses Grundeinkommen. Das wird immer vergessen. Alle sprechen über das Universale, aber wichtig ist die Be- dingungslosigkeit. Die einzige Bedin- gung für ein bedingungsloses Grund- einkommen ist es, Mensch zu sein.

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WAS KOSTET DIE WELT? was published first in print issue 120, "The New Serenity"

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