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Was übrig bleibt von der DDR

Migrationsgeschichten vor und nach 1989 in Dresden.

  • May 17 2024
  • Irma Castillo, Hung The Cao, Hoa Phuong Thi Cap, Dr. Hussein Hasham Jinah
    Irma Castillo studierte ab 1977 Volkswirtschaft in der DDR. Sie war von 1993 bis 2007 Personalratsvorsitzende in der Stadtverwaltung Dresden.

    Hung The Cao wurde ab 1979 in der DDR zum Betriebsschlosser ausgebildet. Von 1987 bis 1990 war er in Freital als Sprachmittler für Vertragsarbeiterinnen im VEB Kinderoberbekleidung beschäftigt.

    Hoa Phuong Thi Cap arbeitete seit 1987 als Vertragsarbeiterin in der Leipziger Wollkämmerei. Seit 1998 ist sie in Dresden als ausgebildete Kosmetikerin tätig.

    Dr. Hussein Hasham Jinah, promovierter Elektrotechniker, studierte und begann seine Habilitation in der DDR. Nach 1990 studierte er Sozialpädagogik und arbeitete als Streetworker und Übersetzer.

Warum kamen Menschen in die DDR? Wie haben sie den Alltag dort erlebt? Und was ist nach 1990 mit ihnen passiert? Diese Fragen wurden Menschen gestellt, die heute in Dresden wohnen und früher in der DDR lebten. In Workshops haben sie über ihre Erinnerungen und Gedanken gesprochen, inspiriert von historischen Materialien und Ausstellungsstücken einer Sonderausstellung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, die die Geschichte des Hauses beleuchtet. Ausschnitte der Videos fließen in die Ausstellung mit ein. Dieser Artikel präsentiert transkribierte Auszüge der Aussagen der Zeitzeug*innen, die als Vertragsarbeiter*innen, Auszubildende und Studierende aus anderen sozialistischen Ländern in die DDR kamen. Es ist wichtig, sich weiterhin mit diesen Lebensrealitäten auseinanderzusetzen. Auch mehr als 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR prägt sie immer noch die Gedanken und Handlungen derjenigen, die diese Zeit erlebt haben. Dies zeigt, dass das Wissen über die DDR und ihre Auswirkungen bis heute von Bedeutung ist.

 

Irma Castillo 
“Ich wuchs in einer streng katholischen Familie auf. Auch sehr streng, wenn es zum Beispiel darum ging, Freunde zu treffen. Es war nicht einfach und das hat mich geprägt. Dann kam ich in die DDR und für mich bedeutete das Freiheit, so komisch das klingen mag.

Ich musste aber zuerst lernen, selbst Entscheidungen zu treffen und für mich zu sorgen. Und zwar schnell, ich hatte bis dahin kein eigenes Geld gehabt und bekam dann ein Stipendium. Ja, und weil ich wusste, dass meine Eltern mich nicht finanziell unterstützen können.”

Hoa Phuong Thi Cap
“Das Wohnheim, in das wir damals zogen, bestand aus verschiedenen Neubauwohnungen. In jedem Zimmer lebten ein bis zwei Kolleginnen, die jeweils in derselben Schicht arbeiteten, damit sie sich nicht gegenseitig störten. Bei uns war es noch gemischt, das bedeutet, Männer und Frauen auf einer Etage in getrennten Zimmern. 

Aber es gab auch Betriebe, in denen es sehr streng war, sodass ausschließlich Frauen oder Männer zusammenlebten. Wir mussten Verträge unterschreiben, in denen stand, dass wir ausschließlich zum Arbeiten gekommen waren. Das heißt, sobald jemand zum Beispiel ein Kind bekam, wurde der Vertrag entweder abgebrochen oder das Kind abgetrieben. Ich habe damals noch viel mehr gearbeitet, weil ich unbedingt Deutsch lernen wollte und wusste, dass wenn man die Sprache erst mal beherrscht, sich dann auch viele andere Türen öffnen.”

 

fig. 1

 

Dr. Hussein Hasham Jinah
“Es gibt etwas, dass ich in den Betrieben gehasst habe, und zwar, dass die Gruppen voneinander getrennt wurden. In der Holsten-Brauerei, das ist heute die Felsschlösschen-Brauerei, saßen Mosambikaner allein, Angolaner allein, Kubaner allein und Deutsche allein. Als Student saß ich dann in der Mensa und alle saßen unabhängig von der Nationalität und Hautfarbe zusammen. Jeder konnte neben jedem sitzen und es gab keine Probleme oder Ressentiments.

Aber in den Betrieben wurde diese Kultur strikt eingehalten. Ich habe dann den Meister gefragt, warum das so ist und er sagte: Ja, das ist hier keine Uni. Als Student war ich unabhängig und privilegiert. Ich wurde zwar von staatlicher Seite kontrolliert, aber nicht so wie als Vertragsarbeiter.”

Hung The Cao
“Ich war damals Lehrling im Wohnheim. Wir lebten genauso wie in der Armee unter Druck, mit Disziplin und wie unter Offizieren. Aber als wir mit der Ausbildung fertig waren, ließ der Druck nach und die Richtlinien wurden lockerer. Es gab auch keine Verbote, wie Liebe oder die Haare lang zu tragen. Aber das war in dem damaligen Wohnheim noch ganz anders.

Die Zeit als Lehrling war ganz anders als die Arbeit als Vorarbeiter. Es hatte sich einiges verändert. In der Zeit, in der ich als Vorarbeiter angefangen habe, das war 1982, lebte ich im Wohnheim mit vielen anderen ausländischen Arbeitern aus Algerien, Ungarn und Polen. Wir verdienten Geld und konnten machen, was wir wollten. 

Es gab keine Beschränkung oder Unterdrückung durch die Botschaft oder durch Politiker, Gruppen oder den Parteisekretär. Unabhängigkeit. Das war eine schöne Zeit. Aber leider ist alles vorbei.

Vielleicht waren wir in einigen Fächern sogar besser als die deutschen Lehrlinge, die nach der siebten oder achten Klasse von der Schule gingen und die Ausbildung anfingen. In Vietnam sind wir nach der zehnten Klasse von der Schule gegangen und hatten dadurch auch zusätzliche Kenntnisse in Mathe und Physik und so weiter. Dadurch fielen uns die mathematischen Sachen leichter.

Sie haben sich auch gewundert und sagten, dass die deutschen Lehrlinge die Aufgaben noch nicht so weit lösen können. Aber das ist ja auch logisch, wenn wir schon zwei Klassen weiter waren und ich muss ehrlich sagen, dass die deutschen Lehrlinge uns gegenüber sehr solidarisch waren und engen Kontakt zu uns hatten. Im Wohnheim und in der Schule. 

Ich denke, sie haben auch mitbekommen, was damals im Vietnamkrieg war und lernten uns dann nach den Berichten im Fernsehen und den Dokumenten über Vietnam kennen, nachdem wir in die DDR kamen.”  

Hoa Phuong Thi Cap
“Ich bin sehr streng, aber auch sehr behütet aufgewachsen und fühlte mich deswegen beengt. Immer wenn ich etwas machen sollte, musste ich vorher um Erlaubnis fragen. Als ich dann gehört habe, dass ich von Zuhause raus kann, habe ich sofort zugesagt. 

Ich hatte keine Vorstellung von der DDR. Die Hauptsache war, von zu Hause raus. Ich glaube, mein Vater hat arrangiert, dass ich in die DDR fahren kann. Ich bin mit Euphorie in das Flugzeug gestiegen. Die anderen Vietnamesen hatten Heimweh und mit dem Abschied zu kämpfen, aber ich wollte was Neues und dann sind wir abends in Berlin Schönefeld angekommen.

Es war im Herbst und mitten im Oktober. An dem Tag danach war es dunkel und kalt. Das war der erste Eindruck von Deutschland.”

Dr. Hussein Hasham Jinah
“Ich kam durch ein Austauschprogramm der Regierung für Bildung und Kultur in die DDR, das war am 14. März 1985. Ich war im Masterstudium, dann kam die Doktorarbeit.” 

Irma Castillo
“Ich habe mich auf ein Stipendium in der damaligen DDR beworben und wurde ausgewählt. Kurz davor gab es in Peru große Konflikte, die politische Lage war labil. Die Universitäten wurden aufgrund der Proteste der Studenten und Studentinnen geschlossen. Ich hätte keine Chance gehabt, dort zu studieren. Meine Eltern waren deswegen froh, dass ich diese Chance bekam. Für sie war ein Studium in Europa, egal in welchem Land, ein Segen.

Ich hatte Bedenken wegen der politischen Richtung in der DDR, aber für meine Eltern war es wichtiger, dass ich eine gute Ausbildung bekomme. Und bei fünf Kindern, die alle studieren wollten, spielte das natürlich eine Rolle.

Das Wetter war schön, viel wärmer, als ich gedacht hatte. Im Herbst roch Leipzig nach Kohle. Ich habe mich über die Gebäude gewundert und über die gepflasterten Straßen und dachte, modern sieht anders aus.”

Hung The Cao
“Ich bin in Hanoi geboren und 1979 unter dem Aspekt der Berufsausbildung in die DDR gekommen. Es war ein Vertrag zwischen Vietnam und der DDR. Mein Vater hatte durch seinen Job Beziehungen, dadurch sind wir leichter in die DDR gekommen.

Wir saßen in Schwimmwesten im Flugzeug, die Rettungspfeifen in der Hand und hatten Spaß. Wir pfiffen durcheinander, bis die Mitarbeiter kamen und mit uns schimpften. Wir wussten nicht, dass es verboten war.

Aber wir haben auch nicht verstanden, was sie wollten. Sahen bloß die bösen Gesichter, die die Ordnung wiederherstellen wollten. Dann kamen wir an, die modernen Häuser und Wohnheime, die deutsche Küche. Ich habe über sieben Kilo zugenommen. In Vietnam gab es nach dem Krieg mit der Versorgung Schwierigkeiten. 

Die USA hatte ein Handelsembargo über Vietnam verhängt, das Leben war nicht leicht, auch wenn es mir gut ging.

Wir hatten Wetten im Betrieb laufen, ob die DDR bleibt oder nicht. Die Leute mutmaßten zwar, aber den Mauerfall hielten wir nicht für möglich.” 

 

fig. 2

 

Dr. Hussein Hasham Jinah
“Ich vergleiche immer, wie frei, demokratisch und wie entwicklungsfähig wir sind. Man kann sich ja vielfältig entwickeln, durch Bildung, Kultur oder auch Musik, aber damals gab es nur Verbote. Mehr Verbote als Gebote.” 

Hung The Cao
“Es gab einen Zug mit Händlern, der aus Polen und Ungarn kam. Diese Händler brachten Pullover, Hosen und sämtliche Textilien. Unsere Landsleute kauften ihnen die Ware ab und brachten sie auf den Markt, um sie weiterzuverkaufen. Sie verdienten dadurch Geld und warum auch nicht? Die Betriebe hatten sich aufgelöst und in der Freizeit konnten sie auch nicht ständig zuhause bleiben. Dadurch entstanden viele Probleme mit den Skinheads, aber wir bekamen keine Unterstützung durch die Polizei.” 

Dr. Hussein Hasham Jinah
“1991 war ich mit meiner Promotion in Elektrotechnik fertig. Ich hatte meinen Doktortitel und hatte die Absicht, einen weiteren Doktortitel zu machen. ‘Doktor B’ sagte man zu DDR-Zeiten oder Habilitation. Ich fing an und einen Monat später wurde ich entlassen, weil die Promotionsregelung nach der Wiedervereinigung anders war.”

Hoa Phuong Thi Cap
“Bis zur Wende arbeitete ich noch im Betrieb, aber direkt danach gab es keine Aufträge mehr. Wir wurden arbeitslos und mein damaliger Freund und jetziger Ehemann sagte: Wenn wir nach Vietnam fliegen, bekommen wir 3000 DM Abfindung und wenn wir bleiben, haben wir kein Geld.

Wir wägten ab, kamen zu dem Schluss, dass wir auch später noch zurückkehren können, und blieben.” 

Irma Castillo
“Das war auch die Zeit, in der ich durch die Solidarität der Frauen plötzlich in einer Verwaltung gelandet bin, obwohl ich mir bis dahin gesagt hatte, dass ich niemals in einer Verwaltung arbeiten werde. Ich hasste Bürokratie und in der DDR wäre es für Menschen aus nicht-sozialistischem Wirtschaftsgebiet auch nicht möglich gewesen, da zu arbeiten.

Aber sie suchten unbedingt jemanden, der mehrere Sprachen sprechen konnte. Und da habe ich dann eine Stelle als Sozialarbeiter in einer Beratungsstelle bekommen.”

Hoa Phuong Thi Cap
“Viele hatten auf einmal keinen Beruf mehr. Die alten Berufe gab es nicht mehr, alle mussten umschulen. Ich habe mich dann einfach angemeldet und musste vor der Umschulung einen psychologischen Test machen, weil ich Ausländerin war und mein Schulabschluss nicht anerkannt wurde. Sie testeten dann, ob ich lernfähig bin und welche Fähigkeiten ich habe.

Ich fand das sehr interessant. Vorher hatte mir niemand gesagt, was ich kann, und ich wusste auch nicht, was ich kann. Nach dem Test wusste ich, dass ich gut rechnen kann und handwerklich begabt bin und entschied mich, Kosmetikerin zu werden.”

Irma Castillo
“Ich habe mich beworben und wurde zu meiner Überraschung in den Personalrat gewählt. Und das hat mich so gepackt, dass ich 16 Jahre lang in einer Verwaltung arbeitete, die sich ständig verändert hat. Wir hatten 3000 Beschäftigte aus dem betrieblichen Gesundheitswesen, sprich Polikliniken und Betriebspolikliniken, und mit einem Schlag wurden alle privatisiert, also 3000 Kündigungen auf den Tisch.

Und so könnte ich weiter erzählen. Es war die Zeit, in der weniger Kinder geboren wurden. Wir hatten quartalsweise manchmal 250 Kündigungen. Alle Frauen und Erzieherinnen und wir mussten lernen, dass unter den Bedingungen des Einigungsvertrages das Kündigungsschutzgesetz für uns nicht galt. Also es gab keine Sozialauswahl, es gab nur Kündigungen. Das hat die Frauen am härtesten getroffen.”

Hung The Cao
“In der Zwischenzeit entstand eine große Welle an Rechten, also Skinheads, die gegen Ausländer waren. Sie waren brutal, ständig gab es Schlägereien, viele hatten Angst davor und sind deswegen gegangen.”

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Ausschnitte aus den Interviews sind in der Ausstellung VEB MUSEUM - Das Deutsche Hygiene-Museum in der DDR (Laufzeit: 9.3.–17.11.2024) im Deutschen Hygiene-Museum Dresden zu sehen. Des Weiteren sind sie auf der Homepage des DHMD öffentlich zugänglich. Das Outreach-Programm, in dessen Kontext die Community-Werkstätten stattgefunden haben ("360° - Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft"), wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.



  • IMAGE CREDITS

     

    Cover, fig. 1, fig. 2: Matthias Rietschel, Lys Geburtstag, 1988. Aus der Serie "Vietnamesen in Dresden", 1987-1990, S/W-Fotografie. © and courtesy of the artist.

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