Es gibt zwei Notenbanken: Die eine verwaltet das Geld, die andere die Kunst. Die eine zählt das Zählbare, die andere das Unzählbare. Die eine kümmert sich um die Stabilität der finanziellen Werte, die andere um die ästhetischen Werte. Die eine sichert das Privateigentum, die andere, was allen gehört. Die eine steht zum Beispiel in Frankfurt (die Europäische Zentralbank) und niemand kann rein, die andere ist das Museum und jeder kann rein und braucht dafür nicht mal unbedingt Geld.
Hier, in der Zentralbank der ästhetischen Werte, steht und hängt der ganze Reichtum der Gesellschaft, all das Erbe, das über die Jahrhunderte bestellt, gekauft und erobert wurde, die Kriegsbeuten, die Sammlungen fremder Fürsten, die Kunst kolonisierter Völker, die Meisterwerke der Antike und ihre Kopien.
In Deutschland verlangen öffentliche Museen meist Eintritt, aber wer zum Beispiel in Großbritannien lebt, kann einfach von der Straße ins Museum hineinspazieren und Kunst aus 5000 Jahren sehen, Statuen, Einbäume, Rüstungen, Teppiche, Barockgemälde, einfach alles, alles, was über 5000 Jahre Leuten einen Sinn gegeben hat, ist da drin. Die ganze Unmöglichkeit von Gerechtigkeit und Schönheit, die daraus entsteht, ist im Museum.
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Kunst wird ja oft so behandelt, als sei sie ein Luxus, den man eigentlich nicht braucht, aber das ist ja wohl das Dümmste und Traurigste, was man sagen kann. Das ist, als würde man sagen, dass man keine Träume braucht und keinen Fußball, kein Schach, kein Fernsehen, keinen Sex und keine guten Gefühle, und dass auch niemand eine Kindheit braucht, und dass man keine Blumen in der Wohnung braucht und keine schönen Klamotten und keine guten Menschen und keine Spaziergänge und keinen Fahrtwind, und dass man auch keine schönen Überraschungen beim Essen braucht und dass alle immer nur stumpf ihre Arbeit machen sollen und sonst gar nichts. Aber wofür sollte man denn dann seine Arbeit machen? Es ist ja andersherum, mit der Kunst fängt alles an, und das Ziel sollte doch sein, dass man möglichst wenig arbeiten muss und möglichst viel Kunst um sich haben kann.
In einer Zeit, in der es eben genau umgekehrt war, in der wenige Leute Kunst sehen oder Bücher lesen konnten und den meisten gar nichts übrig blieb als kurz zu schlafen und lang zu arbeiten, in der Frühzeit der Industrialisierung, waren es gerade Bilder und Romane und Gedichte, die Leute überhaupt auf die Idee brachten, mehr zu wollen. In „Die Nacht der Arbeiter“ beschreibt der Philosoph Jacques Ranciere, wie um 1830 Schreiner, Schneider und Parkettverleger die Abende in die Länge zogen und den Schlaf zurück drängten, um Gedichte zu diskutieren und Pamphlete zu schreiben, um Zeitschriften zu gründen mit Titeln wie „L’Atelier“, die erste Arbeiterzeitschrift, und damit das Feld zu erobern, von dem sie per Reichtumsverteilung ausgeschlossen waren, das Feld der Kunst, der Muße, der Vorstellungskraft und der intellektuellen Abenteuer. Bevor also überhaupt die Arbeiterkämpfe des langen 19. Jahrhunderts den Sozialstaat brachten, an den wir heute so gewöhnt sind, und der die Freiheit brachte, sich für oder gegen Kunst zu entscheiden, erfolgte die Eroberung der Freiheit im Ästhetischen, in der Verfügung über die eigene Zeit und die eigene Vorstellungskraft.
Im Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss studiert eine Gruppe junger kommunistischer Widerstandskämpfer in der Zeit des Dritten Reiches den Fries im Pergamonaltar, der die Schlacht der griechischen Götter gegen die Giganten darstellt. Statt konspirativ in Kellern zu sitzen, stehen die Jugendlichen im Museum, statt möglicher Strategien zum Umsturz diskutieren sie die Details der Ausführung durch die antiken Bildhauer und lernen aus ihnen für den Widerstand, statt der Feier des Sieges der Götter sehen sie den Kampf der Unterdrückten gegen die Herrschenden. Über das Studium des Pergamonaltars gewinnen die Jugendlichen das Gefühl, Teil eines Kampfes zu sein, der die Jahrtausende überbrückt und sie mit den Sklaven des Geschlechts der Attaliden im 2. Jahrhundert vor Christus verbindet. Sie lesen Dante und Kafka, betrachten Goyas „Die Erschießung der Aufständischen“ (1808 – 1814) und Eugène Delacroix’ „Die Freiheit führt das Volk“ (1830), und diskutieren immer den Nutzen für die Revolution. Laufend werden in diesem Megaroman Kunst, Politik, Ökonomie und das Leben Einzelner aufeinander bezogen, womit die Tatsache vorgeführt wird, dass all dies nur aus jedem anderen überhaupt irgendeinen Sinn erhält.
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Indem die von Rancière beschriebenen Arbeiter und die Arbeiterkinder bei Peter Weiss sich vor Kunstwerken fortbilden, verändern sie auch die Kunstwerke, holen sie aus der Repräsentation von Macht heraus, welche die Geschichte festschreiben will, holen sie von den Säulen, widmen sie um, machen sie zum Kampfmittel; und so werden die Werke wieder zu einem existenziellen Einsatz innerhalb einer konkreten gesellschaftlichen Situation, wie sie es auch bei ihrer Entstehung waren. Es ist eine Art der Aneignung der gesellschaftlichen Reichtümer, die das Bildungsversprechen des Museums ernster nimmt als dieses sich selbst.
Kunst ist schwer zu verstehen. Aber das liegt auch daran, dass sie sich von selbst versteht. Es wird doch niemand daran zweifeln, dass Höhlenmalereien und Gesänge den Menschen der Steinzeit und Statuen und Theater den Menschen der Antike überhaupt erst einen Sinn dafür vermittelt haben, wofür es sich zu leben lohnt und dafür, was man sich alles wünschen und was man erreichen kann. Auch Konzeptkunst, die oft Vorwissen verlangt, weil sie sich auf eine Geschichte vorangegangener Werke oder auf Theorien bezieht, versteht sich im besten Fall von selbst in dem Sinne, dass sie ihr eigenes Gesetz aufstellt. Und dass sie mir einen Weg abverlangt, den ich gehen muss, um mich auf ihre Logik einzulassen, einen Weg, der meist weit schwieriger ist, als eine Fernsehserie zu schauen oder Musik zu hören.
Warum sollte ich mich auf diesen Weg einlassen? Weil dieser mühsame Weg, den ich zurücklegen muss, mir einen Souveränitätsgewinn verschafft. Weil er mich ein Stück weit befreien kann von gelernten Gesetzen des Verstehens und mir neue aufzeigen kann. Zu Kunstwerken ins Verhältnis zu treten, verleiht mir eine Freiheit gegenüber den Dingen und macht mich zum Teil eines Gesprächs über Generationen hinweg, in einer Sprache, die immer neu geschrieben wird und welche die kurzlebigeren Sprachen von Alltag, Moral und Politik immer neu herausfordert. Vertraut zu sein mit Werken von Pieter Brueghel, Hannah Höch, Hito Steyerl oder persischer Miniaturmalerei gibt mir das Gefühl, die eigene Familie zu erweitern durch Freunde und Verwandte aus anderen Zeiten und Zusammenhängen, auch wenn das Kennenlernen nie aufhört, weil sie mir letztlich immer fremd bleiben. Ich lerne meine Geschichte kennen und die Geschichten anderer, ich lerne, wie viele Geschichten es geben kann, und wie viele verschiedene Arten, sie zu zeigen. Das mindert die Angst. Man wird geduldiger mit der eigenen Angst. Man ist ja ständig fremden Dingen ausgesetzt.
Das Beste am Ins-Museum-Gehen ist dann ja das Aus-dem-Museum-wieder-Hinausgehen: die Sinne geschärft für die banalen Dinge, die auf einmal alle nach ihren eigenen Gesetzen erscheinen, befreit aus der Zweckmäßigkeit. Die Welt auf ästhetische Weise wahrzunehmen, herauszutreten aus den fest gezurrten Logiken der Rationalität, der Bedürfnisbefriedigung und der Moral, ist eine Grundvoraussetzung dafür, sich frei zu fühlen.
Klar, das schafft auch der Kinobesuch oder der Spaziergang im Wald. Aber im Museum stehe ich vor Dingen, die schon vor hundert Jahren schon hier hingen und, wenn es nach Plan verläuft, auch noch in zweihundert Jahren dort hängen. Das macht Kunstwerke zu etwas, an dem man Maß nehmen kann und zu dem man das eigene Leben ins Verhältnis setzen kann. Jedes gelungene Werk ist ein Maß: Es ist nicht nach festen Regeln zu verstehen, es erfüllt keine bestehenden Gesetze, es ist sein eigenes Gesetz. Lerne ich dieses Gesetz zu lesen, kann ich damit anders auf die Welt blicken. Und andere Kunstwerke daran messen. Der Weg, den man zurücklegen muss, um in ein Wimmelbild von Pieter Brueghel einzutauchen oder die existenzielle Lakonik der von Felix Gonzales-Torres ausgegossenen Bonbons im Gewicht seines verstorbenen Geliebten zu ermessen (“Untitled” (Placebo), 1991), ist der Freiheitsraum, den ich gewinne.
1791 einigte sich die Französische Nationalversammlung darauf, wie lang ein Meter ist. Das erste Urmeter aus Platin lagert heute in einem Tresor des Internationalen Büros für Maß und Gewicht Sèvres bei Paris. Der Meterstab aus Metall erlaubte die Herstellung von Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit. Diese Vergleichbarkeit wird von jedem einzelnen gelungenen Werk herausgefordert.
Wer also neue Gesetze schreiben möchte, der kann im Museum anfangen. Wer gute Gesetze schreiben möchte, dem hilft natürlich juristisches Wissen. Aber für gelungene Gesetze braucht er ein historisches und ästhetisches Verständnis dessen, worum es beim Gesetzeschreiben geht, nämlich was es bedeutet, unter Menschen und Dingen zu sein und in der Geschichte zu stehen. Weil Kunst immer radikal konkret ist, schärft sie, viel mehr als Physik oder Mathematik, die Sinne dafür, wie Dinge gemacht sind.
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Klar kann die Beschäftigung mit der Kunst nicht die mit der Politik ersetzen. Aber die Beschäftigung mit der Kunst schafft erst den Raum dafür, sich darüber klar zu werden, was es sich warum zu wünschen lohnt – und wirklich Politik zu machen. Politik ist nämlich mehr als Realpolitik. Politik zu machen heißt im Verständnis von Jacques Rancière nicht, Gesetze zu entwerfen und deren Einhaltung zu überwachen. Diese Verwaltung der bestehenden Ordnung nennt Rancière nur „Polizei“. Politik besteht für ihn in der Änderung der Ordnung des Sinnlichen, die darüber bestimmt, was wie in die Wahrnehmung treten kann. Damit sind die Arbeiter, die den ihnen zugewiesenen Platz von Arbeit und Reproduktion verlassen und Gedichte verfassen, die wirklichen Politiker.
Oft werden der Kunst die hohen Preise zum Vorwurf gemacht. Als wären Millionenbeträge ein Zeichen dafür, dass etwas mit der Kunst nicht stimmt, und dass sie so weit von einem sinnvollen Leben entfernt sei wie die Preise vom Durchschnittsvermögen. Inzwischen ist ja kaum noch ein Museum in der Lage, ohne Hilfe von Privatleuten bedeutende aktuelle Werke zu kaufen. Doch kann die Kunst da nur insofern was dafür, als ihre Werke in der Regel eben nur einmal existieren und nur mit sehr viel Können und Glück gefälscht werden können. Das macht sie neben Menschen zu einem der letzten zählbaren Dinge überhaupt. Diese Dinge, die es nur einmal gibt, sind also auch in einem zweiten Sinne ein Maß: für die wenigen ins Unermessliche wachsenden Privatvermögen, die in ihnen ihren Ausdruck finden. Nicht der Wert der Kunst wird auf spektakulären Auktionen in Geld verhandelt, sondern umgekehrt der Wert von Vermögen in Kunst. Letztlich ist Kunst damit die einzige Währung, auf die man bauen kann. Sie spiegelt die Wirklichkeit nirgends so scharf wieder wie auf der Ebene ihres Marktes: Wächst die Ungleichheit, steigen die Preise. Mit der Versechsfachung der weltweiten Milliardäre seit dem Jahr 2000 stiegen die Preise im Kunstmarkt und sank die Zahl der Marktteilnehmer, die mithalten konnten. Die Preise lassen sich also nicht innerhalb der Kunst verändern. Sie sind nur die Symptome. Wer sie verändern will, muss die Welt verändern.
Dieser Text ist eine leicht veränderte Fassung des gleichnamigen Essays aus Arts of the Working Class 1, 2018
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- Image credits
Cover: Paulina Nolte, Earthyn, 2024. Foto: Constanza Meléndez, courtesy of the artist.
fig. 1: Paulina Nolte, Interal System, 2024. Foto: Constanza Meléndez, courtesy of the artist.
fig. 2: Paulina Nolte, Fairy Grotto, 2024. Foto: Constanza Meléndez, courtesy of the artist.
fig. 3: Paulina Nolte, Dream Devil, 2024. Foto: Constanza Meléndez, courtesy of the artist.