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DEN REVOLUTIONEN ENTGEGEN

Das Filmkollektiv „labournet.tv“ dokumentiert Proteste und andere Formen des Widerstands und der Basisorganisation

  • Report
  • Jan 09 2024
  • Noa Jaari
    arbeitet als freie Autorin und lebt in Berlin. Ungefähr alle zwei Wochen organisiert sie im Proberaum der Schaubühne Berlin die »Non-productive Writing« Reihe von und für Autor*innen aus der Arbeiter*innenschicht.

Das Filmkollektiv hinter labournet.tv dreht seit 2011 Filme über soziale Ungleichheiten in Europa, Südamerika und Asien. Ihre Onlineplattform umfasst Filme aus ingesamt 65 Ländern und bildet dadurch einen unabhängigen Gegenpol in der Berichterstattung und Dokumentation von Protesten und Widerständen. Neben dem Material von labournet.tv sind darunter auch Filme der Journalistin Sophia Boddenberg und dem Filmemacher Michell Moreno, der US-amerikanischen Organisation More perfect union, der italienischen Basisgewerkschaft Si Cobas, der journalistischen Gruppe Nawaat aus Tunesien und dem ägyptischen Medienkollektiv Mosireen, das 2011 während der ägyptischen Revolution entstand. In den Filmen dokumentieren sie Proteste gegen prekäre Arbeitsbedingungen und staatliche Reformen, kollektive Selbstorganisationen, aber auch wie Proteste entstehen und welche Formen des Widerstandes sich dadurch entwickeln. Darunter die ökosozialistische Fabrik GKN in Florenz, das autonome Hafenarbeiterkollektiv CALP in Genua, die Neighborhood Resistance Committees im Sudan und die Nachbarschaftsversammlungen in Santiago de Chile.

Film 01: Die Neighborhood Resistance Committees im Sudan, 2023, Englisch mit dt. Ut

Die Neighborhood Resistance Comittees im Sudan entstanden überwiegend 2013 durch die Organisation von zivilem Ungehorsam gegen die Regierung von Omar al-Baschir. Sie bildeten sich aus den Basisbewegungen, positionierten sich politisch und entwickelten sich zu einem wichtigen Netzwerk während der sudanesischen Revolution 2019. Im April 2023 brach mit Beginn des Krieges die staatliche Infrastruktur zusammen und wird seitdem überwiegend von den Neigborhood Resistance Committees ersetzt. Im Sudan gibt es über 5.200 Neighborhood Resistance Comittees, erzählt Marwan Osman von Sudan Uprising. Während der anhaltenden Konflikte zwischen den Rapid Support Forces und den sudanesischen Streitkräften organisieren sie trotz der unsicheren Transportwege Trinkwasser, die Versorgung mit Lebensmitteln, medizinische Versorgung, psychosoziale Betreuung und sichere Unterkünfte für Frauen. Und auch Notaufnahmen. Daneben versuchen sie die landwirtschaftliche Arbeit und die Ernten genossenschaftlich zu organisieren. Sie sind informell, basisdemokratisch und resistent gegen die sudanesischen Geheimdienste. Die Neigborhood Resistance Committees unterstützen zudem die Evakuierung von Zivilist*innen aus den umkämpften Gebieten und setzen sich politisch dafür ein, dass sich die lokale Bevölkerung weder auf die Seite der paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) noch auf die der sudanesischen Streitkräfte (SAF) stellt, da beide Gruppen die Demokratisierung des Landes sabotieren. Jede Nachbarschaft hat ein eigenes Komitee, ein Stadtbezirk kann mehr als fünf Komitees haben und jeder Sektor hat ein Koordinationsgremium, beschreibt Marwan Osman die Struktur. Das Koordinationsgremium trifft keine Entscheidungen, es koordiniert nur die verschiedenen Bezirke. Es gibt innerhalb der Neighborhood Resistance Committees keine Hierarchien und Abstimmungen, aber laufende Diskussionen. Solange bis sich ein gemeinsamer Konsens ergibt. Der Vorteil ist, dass sich dadurch keine Konzentration von Macht in den Händen von wenigen ergibt. Außerdem hält es die Nachbarschaften unabhängig. Aber manchmal dauert es dadurch auch bis sich eine Entscheidung ergibt. Die Berichterstattung über die Lage im Sudan ist ein gutes Beispiel für einen der wichtigsten Aspekte in der Arbeit von labournet.tv. In der Berichterstattung über Proteste und Graswurzelbewegungen gibt es meistens zu wenig Informationen. Durch die Nachrichten bekomme man zwar einen Teil mit, erzählt eine Filmemacherin des Kollektivs, aber oft fehle der Kontext der Proteste. Dadurch verstehe man die Ursachen nicht und das führe zu Fehleinschätzungen der Proteste und beeinflusse auch die gesellschaftliche Diskussion darüber.

 

Fig.1

 

Film 02: Das autonome Hafenarbeiterkollektiv CALP, 2022 in Genua, Italien, Italienisch mit dt. ut

Das autonome Hafenarbeiterkollektiv CALP setzt sich seit 2011 zum einen für bessere Arbeitsbedingungen der Hafenarbeiter in Genua ein und blockierte zum anderen den Transport von Waffen, die von Genua aus in Kriegsgebiete verschifft wurden. 2019 demonstrierten die Hafenarbeiter deswegen zum Beispiel gegen die Verladung von Generatoren für das saudische Militär auf dem saudi-arabischen Frachter Bahri Yanbu. Der Fall dieses Frachters zeigte deutlich, wie groß der Widerspruch der italienischen Politik zum Waffenhandel ist. Laut Artikel 11 der italienischen Verfassung lehnt Italien den Krieg in jeder Form ab, arbeitet für den Frieden und schürt auch keine Konflikte. Das schließt den Transport von Waffen ein und auch die Durchfuhr von Rüstungsgütern in andere Länder. Im Sommer 2019 liefen der saudi-arabische Frachter Bahri Yanbu und das libanesische Containerschiff Bana im Hafen von Genua ein. Die Bana hatte für die Verteidigungsgruppen der ENI-Ölkonzerne Rüstungsgüter nach Libyen gebracht, war dort entladen worden und nahm dann Kurs auf Genua. Der Frachter wurde von der französischen Marine vor Korsika abgefangen. Sie zeigten an, dass Italien einen Frachter aufnimmt, der Waffen an dschihadistische Gruppen in Libyen liefert, schildert José Nivoi. Er arbeitet seit 16 Jahren im Hafen von Genua und gehört zum Kollektiv CALP. Italien zeigte sich antimilitaristisch, der Frachter wurde beschlagnahmt und die Besatzung verhaftet. Artikel 11 wurde durchgesetzt, aber es waren keine Rüstungsgüter mehr an Bord. Die Bana lief in den Hafen ein, als wir auch die Ankunft des saudi-arabischen Frachters Bahri Yanbu meldeten, erzählt Nivoi. Aber das Gesetz wurde nicht auf sie angewendet. Stattdessen wurde es beladen und fuhr wieder ab. Die Hafenarbeiter blockierten den nächsten Frachter des Unternehmens Bahri und erzeugten dadurch nicht nur mediale Aufmerksamkeit, sondern auch diplomatische Konflikte. Der Transport von Waffen und militärischem Gerät wurde im Hafen von Genua verboten. Der italienische Staat reagierte mit Repressionen gegenüber CALP - wegen des Verdachts auf Gründung einer kriminellen Vereinigung und wegen Unterbrechung der öffentlichen Versorgung im Zusammenhang mit dem Unternehmen Bahri. Es hat uns nicht beunruhigt, aber es gab uns einen Eindruck davon, wie der Staat reagiert, wenn du supranationale Wirtschaftsfragen berührst, sagt José Nivoi. Und versuchst die Ökonomie des Hafens zu bestimmen. Auch dem Team von labournet.tv begegnen während ihrer Arbeit an den Filmen immer wieder verschiedene Formen von Repressionen und Gewalt gegenüber Gewerkschaften und Arbeiter*innenbewegungen. 

Film 03: Sentido (en) común, Santiago de Chile, 2021, Spanisch mit dt. ut

Im Oktober 2019 begannen in Santiago de Chile Proteste gegen die Erhöhung der Kosten für den öffentlichen Nahverkehr. Innerhalb von zehn Tagen nahmen die Proteste zu, die Regierung verhängte den Ausnahmezustand und reagierte mit massiver Gewalt, Repressionen und Ausgangssperren. Dennoch entwickelten sich die Proteste zu einer breiten kollektiven Bewegung gegen soziale Ungleichheiten und das neoliberale Wirtschaftssystem. In den ersten Wochen der Proteste entstanden in Santiago ungefähr 200 selbstverwaltete Nachbarschaftsversammlungen: Die Cabildos und Asambleas. In diesen Nachbarschaftsversammlungen wurden Informationsveranstaltungen sowie die Proteste organisiert und die politischen und sozialen Konflikte diskutiert. Es bildeten sich unterschiedliche Arbeitskommissionen wie zum Beispiel zur politischen Bildung und Kommunikation, zur Kultur und zum Widerstand, zu Gesundheitsfragen und Menschenrechten, Mieten und fehlendem Wohnraum, zur Lebensmittelversorgung und dem Klimawandel. Die Nachbarschaftsversammlungen sind horizontal und basisdemokratisch strukturiert und bestehen aus 70 bis 700 Personen. Das Ziel ist die Dezentralisierung der politischen Macht. Während der Pandemie weiteten sie sich auch auf die ländlichen Regionen abseits von Santiago aus und damit auch ihre Arbeitskommissionen. Ihnen wurden Themen wie die Nutzung von Pestiziden, Wasserverschmutzung, die hohe Gewaltrate an Frauen und prekären Arbeitsbedingungen auf den Plantagen hinzugefügt. 

Die Proteste und Graswurzelbewegungen, die labournet.tv dokumentiert, sind durch ihre politischen und sozialen Zusammenhänge sehr unterschiedlich, zeigen aber auch grundlegende Parallelen. (1) Wie zum Beispiel, dass revolutionäre Praktiken vor allem aus der praktischen Auseinandersetzung mit dem Alltag und seinen Bedingungen entstehen, und nicht ausschließlich aus kritischen Theorien und theoretischen Diskursen. (2) Sobald der Schwerpunkt auf strukturellen Lebens- und Arbeitsbedingungen liegt, werden Proteste zu einer Notwendigkeit, anstatt zu einer Option oder moralischen Frage. (3) Das bedeutet auch, dass praktisches und akademisches Wissen gleichberechtigt und unmittelbar miteinander verbunden werden, vor allem bei politischen und sozialen Fragen. 

Der aktuelle Film des Filmkollektivs »Loud Spring« verbindet Klassenkampf mit den Auswirkungen des Klimawandels. Die Dokumentation diskutiert die Problematik am Kapitalismus und wie sich ein radikaler Systemwandel entwickeln könnte. Zum streamen online: https://de.labournet.tv

 


labournet.tv ist ein unabhängiges Filmkollektiv und Archiv über internationale Arbeiter*innenbewegungen: https://labournet.tv/

 

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Cover: Banner des italienischen Hafenarbeiterkollektivs CALP, abgebildet ist der Frachter Bana Beirut, darunter steht: »Schlisst die Häfen für den Krieg«

Fig. 1. : Marwan Osman von Sudan Uprising im Interview mit dem Team von labournet.tv, 2023

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