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NACH DER BERECHNUNG

Ein Tagebucheintrag über hybride Verbindungen, vorprogrammierte digitale Prozesse und organische Ereignisse

  • Jul 13 2020
  • Nina Zschocke
    Forscht und lehrt zur Kunst- und Mediengeschichte der Gegenwart am Departement Architektur der ETH Zürich. Inmitten der Umbruchszeit, auf die die Autorin hier zurückblickt, erschienen ihre Vorlesungsreihe Digital Matters (2019/2020) sowie ihre Bücher Der irritierte Blick (2006), Autorität des Wissens (2012, hg. zus. m. Anne von der Heiden), Diversität (2015, hg. zus. m. Andre Blum et al.), Productive Universals (2019, hg. zus. m. Anne Kockelkorn) und Laboratorien der Erfahrung (2022).

Mein Internetradio ist ausgegangen. Testend greife ich in die Erde unserer Zimmerpflanze, einer jungen Geigenfeige, sie war ein Geburtstagsgeschenk. Eigentlich wächst die Geigenfeige in tropischen Gebieten, im Regenwald, sie braucht viel Feuchtigkeit, das ist eines ihrer Bedürfnisse. Die Erde ist trocken. Ich sollte mich besser um sie kümmern. Sobald das Wasser aus meinem Glas bis zu den Wurzeln gesickert ist, springt das Radio wieder an. Die Netzverbindung ist dank der Leitfähigkeit des Wassers wiederhergestellt. Es gefällt mir, dass eine Pflanze, die mit mir wohnt, ihre Rechte einfordern kann. Im Stream eines Kölner Senders läuft Device Control von Wolfgang Tillmans, ein Song aus den 2010er Jahren, in den viele Künstler*innen zum Modus der Aufklärung zurückkehren, um den negativen sozialen, politischen und ökologischen Folgen der Digitalisierung damaliger Ausprägung auf den Grund zu gehen. 

Tillmans an der verführerischen Sprache der Werbung geschulter Songtext persiflierte jenen Moment, in dem persönliche digitale Geräte begannen, ihre Besitzer auf endlose Kommunikation zu programmieren: "livestream your life". Anfang des Jahrhunderts schien dank datenbasiertem Profiling und individualisierter Medieninhalte, die Verbindung behavioristischer (Frederik Skinner, Walden Two, 1948) und kybernetischer (Nicolas Schöffer, Ville Cybernetique, 1969) Verhaltenskontrolle mit der Werbung (Vance Packard, The Hidden Persuaders, 1957) ihrer Vervollkommnung nahe. Gigantische Datenernten und selbstlernende Computersysteme nährten den Traum vom Weltmanagement, von einer - nach den jeweils eigenen Kriterien - ideal programmierbaren Gesellschaft. Um 2020 herum standen dabei immer noch alle Zeichen auf Kolonialisierung des Lebens zugunsten der Wirtschaftsinteressen von Technologiekonzernen und Plattform-Unternehmen (Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism, 2019). Menschliches Verhalten galt als Ressource, deren Ausbeutung nichts im Wege stand.

Abschalten und Aussteigen schien in diesem Moment die einzige Alternative. !Mediengruppe Bitnik und Low Jack schrieben mit Alexiety (2018) dann auch einen Song, der den damals handelsüblichen KI-basierten persönlichen Heim-Assistenten Amazon Alexa, Google Home und Siri destruktive Befehle erteilte: "delete all contacts", "disconnect".  Diese EP sollte über das Radio laufen, "zum Vergnügen der Smart Homes überall" und war so laut abzuspielen, dass auch die Geräte der Nachbarn zuhörten. Musik als Selbstverteidigung und Weg in den digitalen Ausstieg. Angriffsziel waren in Stadt- und Privaträumen verteilte Sensoren, die Firmen und verborgenen Akteuren jene Informationen lieferten, mittels derer sich fragwürdige Prognosen errechnen (Hito Steyerl, This is the Future, 2019) und Konsument*innen und Wähler*innen durch psychologische Tricks in Richtung vorgegebener Entscheidungen "schubsen" (Richard H. Thaler & Cass R. Sunstein, Nudge, 2008) ließen. 

Manipulation statt Debatte. Kalkül statt Zukunft. Die Brüsseler Computerrechtsexpertin Mireille Hildebrandt griff Hannah Arendts frühe Warnung auf, das Problem mit dem Behaviorismus sei nicht, "dass er falsch ist, sondern dass er wahr werden könnte" (Hannah Arendt, The Human Condition, 1958). Am Beispiel intelligenter E-Learning Umgebungen argumentierte Hildebrandt, dass Menschen aufgrund der Plastizität ihres Gehirns Gefahr liefen, sich an programmierte Umwelten als neue ökologische Nischen mit Aufforderungscharakter (James J. Gibson, The ecological approach to visual perception, 1979) anzupassen und dabei im Denken und Handeln maschinen ähnlicher zu werden. Menschlich sein bedeutet auch mit den durch die menschliche Sprache eröffneten Interpretations- und Möglichkeitsräumen, mit Kontingenz und mit Unerwartetem umzugehen.

Von einer Maschine getestet - oder im Smart Home bedient oder in einer Smart City gesteuert - zu werden, verleite Menschen hingegen dazu, wie diese Maschinen zu denken und zwar, weil dann für Menschen ein Bedürfnis entsteht "zu antizipieren wie diese Systeme sie antizipieren" (Mireille Hildebrandt, Learning as a Machine, 2017). Die Gefahr bestehe darin, rekonfiguriert (Philip E. Agre, Surveillance and Capture, 1994) und in vorgefertigte Lernprozesse geschubst anstatt herausgefordert zu werden, eine kritische Distanz zu entwickeln. Ernstzunehmende Konsequenzen ergeben sich daraus für die demokratische Gesellschaft, die auf unabhängig Denkende angewiesen ist um ihre Zukunft zu entwerfen. Aufgrund ihres europapolitischen Engagements gelang es Hildebrandt und ihren Mitstreiter*innen, ihrer Warnung Gehör zu verschaffen. Entsprechend schützt heute geltendes Recht die Unberechenbarkeit des dynamischen menschlichen Selbst und setzt neue Designprinzipien für den Bau selbstlernender technischer Systeme durch (Mireille Hildebrandt, Privacy as Protection of the Incomputable Self, 2019). Die Mechanismen und Grenzen des maschinellen Lernens gehören seitdem zum Schulstoff.

Anteil an dieser Neubewertung des Verhältnisses zwischen menschlichem und programmiertem Verhalten hatte auch die Künstlerin Lauren McCarthy, die sich in selbst entworfenen experimentellen Anordnungen selbst als Person in Konkurrenz zu oder Abhängigkeit von so genannten "intelligenten" künstlichen persönlichen Assistenten erprobte. Ob sie sich als Mensch an jene Stelle setzte, an der im Smart Home die Algorithmen operieren (LAUREN, 2017) oder ob sie als Gastgeberin einer 24 stündigen Party ihre soziale Intuition vollständig durch ein selbst programmiertes und mit persönlichen Daten gefüttertes System ersetzte, das ihr Anweisungen gab (24H Host, 2017): vorgeführt wurde jeweils die Differenz zwischen Berechnung und Reflektion, spürbar die Absurdität eines KI-gemanagten Lebens. Zugleich ließen sich anhand dieser künstlerischen Versuche, Programmverhalten in körperliche und soziale Performance zu übersetzen, auch die Spielräume maschineller Assistenz und zwischenmenschlichen Handelns neu ausloten. So wiesen solche Projekte nicht in Richtung einer radikalen Abkehr von KI basierten Technologien. Sie erinnerten eher daran, dass das Neue - sei es in den Wissenschaften oder in den Künsten - nur dort in Erscheinung treten kann, wo Planung und Unvorhergesehenes zusammenspielen. Ein Beispiel sind Experimentalsysteme, die eine wiederholbare Struktur aufweisen und zugleich Ungelöstes bergen (Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, 2006). 

Zukunftsweisend waren in diesem Sinne Künstler*innen, die mit dem ästhetischen Potenzial hybrider Verbindungen von programmierten digitalen Prozessen und nicht plan- und unberechenbaren, organischen und sozialen Ereignissen experimentierten. Am Ende der 2010er Jahre begann etwa Pierre Huyghe damit, Kurzschlüsse zwischen der Kunstwelt, der Postnatur des Anthropozäns und komplexen digitalen Systemen zu inszenieren (After Alife Ahead, 2017; UUmwelt, 2018). Besucher wurden mit fantastischen Welten unkalkulierbarer und doch aufeinander bezogener Ereignisse konfrontiert. Es blieb unabsehbar, auf welche Weisen eigene oder fremde Handlungen von Tieren, Mitmenschen und KI-Systemen interpretiert würden, welchen Einfluss das Wetter haben und in welchem Zustand sich der geteilte Lebensraum zukünftig befinden werde. An die Stelle des menschlichen Herrschaftsanspruchs und der Steuerungsversuche trat eine testende, tastende Bewegung, aufmerksam für Resonanzen aus der belebten und unbelebten Umwelt.

Obwohl heute ein mit Sensoren, Ein- und Ausgabeschnittstellen versehenes digitales heterogenes, von vielen Akteuren mit- und kontinuierlich umgestaltetes Nervensystem unsere Umwelt durchzieht, ist aus unseren Lebensräumen keine kybernetische Maschine geworden. So nehmen wir nicht mehr ungefragt an Experimenten in zu Laboratorien umgebauten Stadt- und Privaträumen teil. Wie auch das Internet hat sich die Stadt erholt von den Jahren unhinterfragter datenbasierter Programmierungsversuche, beide sind ökologischer, sozialer geworden, haben wieder an Diversität gewonnen. Durch eine neue Aufmerksamkeit für Interessen früher vernachlässigter und doch immer schon an der Infrastruktur der Stadt beteiligter Bevölkerungsgruppen jenseits der nationalen Grenzen und durch eine neu gewonnene Sensibilität für die Bedürfnisse und Rechte anderer Spezies und Ökosysteme, hält das private und das öffentliche Leben für Bewohner und Planerinnen heute wieder neue überraschende Wendungen bereit, auf die sie auch mit neuen technischen Hilfsmitteln, vor allem aber menschlich reagieren: deutend, gestaltend, gemeinsam oder im Streit miteinander, das Mögliche auslotend; so ist die Stadt im besten Sinne wieder das, was sie sein sollte: ein Dschungel, in dem es sich Leben lässt.

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Technology, Pauline Nolte, 2020

 

 



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    Technology, Paulina Nolte, 2020

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