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GUTEN TAG, TRISTESSE

Über die Ausstellung "Annem işçi – Wer näht die roten Fahnen?" Mit Arbeiten von Nuray Demir, Semra Ertan, Mehmet Güler, Gülsün Karamustafa, Asimina Paradissa, Monika Sieveking, Gerdt Marian Siewert, Nil Yalter und Serpil Yeter.

Die bilateralen Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Ländern am Mittelmeer (1955 mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien und 1968 mit Jugoslawien) sollten primär einen Arbeitsmarkt bedienen, und nicht die Zuwanderung von Menschen, die hier ein neues Leben beginnen würden. Frauen emigrierten nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch im Wunsch nach Unabhängigkeit, doch ihre Arbeitsbedingungen waren oft prekärer als die männlichen Gastarbeiter. Von provisorischen Unterkünften bis zu übermäßigen Lohnabzügen im Tausch gegen komfortablere Wohnheimen variierten diese Bedingungen stark.

Die Künstlerin auf dem Bild kam in den 60er Jahren nach Wilhelmshaven, arbeitete für die Olympiawerke und fotografierte dabei sich selbst und Freundinnen. Sie zeigte, was ihr als Arbeiterin geschah. Die Dichterin schrieb Gedichte in der Tram, verfasste Kurzgeschichten, überlegte sogar, diese als Buch zu veröffentlichen. Bei Asimina Paradissa (geb. 1945 in Vrasta, Griechenland) und Semra Ertan (geb. 1957 in Mersin, Türkei, gest. 1982 in Hamburg) vermischen sich künstlerischer Ausdruck und Arbeitsumgebung. Das Gewicht der objektiven Bedingungen und ihre subjektive Widergabe verstärken einander. Auch das Gruppenbild von Monica Sieveking (geb. 1944 in Potsdam), das Arbeiterinnen am Fließband vom Siemenswerk zeigt, ist ein symbolisches Bild, das eine Arbeitssituation zusammenfasst. 

 

fig. 1

 

Die Ausstellung Annem işçi – Wer näht die roten Fahnen? die Gürsoy Doğtaş am Marta Herford kuratierte, bringt eine Gruppe von Menschen zusammen, die sich eher für Arbeiter*innen stark machen als dass sie selbst strictu sensu Arbeiter*innen wären, aber auch sie sind seit den 1960er Jahren als Migrant*innen nach Deutschland gekommen. Der Kurator erzählt:

Ein Foto aus dem Familienalbum zeigt meine Mutter in der Fabrik. Sie und ihre Kolleginnen haben sich mit ihren blumengemusterten Arbeitsschürzen vor den großen Maschinen von Telefunken in Hannover positioniert. Sie fühlt sich wohl in der Gesellschaft ihrer Kolleginnen. Ihnen ist anzusehen, dass sie gemeinsam stark sind.“

Die Ausstellung zeigt, wie aktuell die Notwendigkeit ist, dieses Kapitel der Migrationsgeschichte in Deutschland wieder aufzumachen. Die Arbeiten, meist aus den 1970er Jahren, regen dazu an, über Fremdheit und unsere Rollen in der Gemeinschaft nachzudenken. Sie erzählen nicht nur einzelne Geschichten. Sie fragen: Kennen Sie diese Realitäten? Wissen Sie, was es bedeutet, irgendwo anzukommen, unter prekären Bedingungen? Diese Fragen richten sich nicht nur auf die Realitäten von Migrant*innen in Deutschland.

Das Poster von Gülsün Karamustafa (geb. 1946 in Ankara), einer der bedeutendsten Künstler*innen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Türkei, wo ihr Werk jüngere Künstlergenerationen seit den 1990er-Jahren maßgeblich beeinflusst hat, zeigt ihre aktivistische Seite. Auf dem Bild sehen wir eine Frau an der Nähmaschine. Sie näht rote Fahnen. Es sind die Fahnen politisch bedingten Nomadismus, feministischer Kämpfe sowie des Widerstands gegen den westlichen Blick auf Menschen des Nahen Ostens.

 

fig. 2

 

Thematisch sowie formell sind Karamustafas und Serpil Yeter (geb. 1956 Istanbul) sehr nah, auch wenn ihre Wandarbeit noch so frisch roch am Eröffnungstag. Yeters Allegorie ist durchdrungen von eindeutigen Bezügen zu aktuellen Diskursen, vom Widerstand gegen rechtsextreme Kräfte, Protesten für gerechtere Löhne in den Fabriken und Bildern für den Geist, den nur Gewerkschaften hergeben. Die Melancholie in Mehmet Gülers Graphik stellt neben ihr auf universeller Höhe fest, wie unbezahlbar die Schulden gegenüber Generationen ausgebeuteter Menschen bleiben.

 

fig. 3

 

Der Marsch für Gerechtigkeit und gegen Rassismus fand zuerst 1983 in Frankreich statt, ausgelöst von Polizeigewalt. Im selben Jahr entwickelt Nil Yalter (geb. 1938 in Kairo) eine Serie von Photographien und Kollagen, die Gastarbeiter*innen in Frankreich porträtiert. Auf der Collage lässt sich lesen: EXIL IST HARTE ARBEIT. 

 

fig. 4 

 

Dieser Satz, der, in mehrere Sprachen übersetzt, auf Plakaten in Herford auftaucht, thematisiert eine Armut, die materiell und strukturell bleibt. Hinter dieser Aussage stehen Menschen, die gemeinsam stark sind. Die Ausstellung zeigt exemplarisch die graue Zone, in der Diskriminierung, Rassismus und Gewalt noch den Schicksal von tausenden Zwangsvertriebenen in der Welt prägen. Im April eröffnet eine Fortsetzung von Doğtaş kuratorischer Revision, in Zusammenarbeit mit Susanne Pfeffer, am MMK in Frankfurt.

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Bis zum 20. Mai 2024 am Marta Herford – Museum für Kunst, Architektur, Design Goebenstraße 2–10, 32052 Herford, Deutschland.



  • IMAGE CREDITS

     

    Cover: Nil Yalter, Exile is a Hard Job, 1983-2023 © Marta Herford, Foto: Besim Mazhiqi.

    fig. 1: Mehmet Güler, Das Schicksal der Frauen, 1977, Mappe mit 10 Farb-Radierungen Courtesy der Künstler © Marta Herford, Foto: Besim Mazhiqi.

    fig. 2: Gülsün Karamustafa, 1977 First of May (Woman constantly sewing red flags with her sewing machine), 1977. © and courtesy of the artist and BüroSarıgedik. 

    fig. 3: Serpil Yeter, Rote Zukunft, 2024,
    Wandmalerei und Nuray Demir, together (dreiteilige Installation), 2024, Arbeitskittel aus Baumwolle, Rosenduft, Maße variabel Courtesy die Künstlerin © Marta Herford, Foto: Besim Mazhiqi.

    fig. 4: Nil Yalter, Şu gurbetlik zor zanaat zor, 2024, Courtesy die Künstlerin © Marta Herford, Foto: Besim Mazhiqi.

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